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Roman, Piper Taschenbuch 7486, Piper Taschenbuch 27486

Erschienen am 17.09.2012
Auch erhältlich als:
Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783492274869
Sprache: Deutsch
Umfang: 411 S.
Format (T/L/B): 3 x 19.1 x 12 cm
Einband: kartoniertes Buch

Produktsicherheitsverordnung

Hersteller:
Piper Verlag GmbH
Mark Oliver Stehr
[email protected]
Georgenstraße 4
DE 80799 München

Leseprobe

Prolog Am 23. Februar 1890 erschütterte ein schweres Erdbeben die ligurische Küste bis hinunter nach Nizza. Die Bewohner hatten am Vorabend das Ende des Karnevals gefeiert. Und plötzlich, bei Tagesanbruch, begann die Erde unter ihnen zu beben, Mauern wankten und stürzten ein, die Glocken begannen zu läuten, Möbel tanzten durch die Zimmer, Bilder fielen krachend von den Wänden. Die Menschen, die ein paar Stunden zuvor noch fröhlich auf den Straßen getanzt hatten, stürzten jetzt aus ihren Häusern, um ihr Leben zu retten.   In dieser Nacht entschloss sich in dem kleinen Ort Fayence, ungefähr dreißig Kilometer landeinwärts, ein kleines Mädchen, auf die Welt zu kommen. Für seine Mutter und die Hebamme blieb keine Zeit, um sich in Sicherheit zu bringen. Zum Donnern des Erdbebens kamen die Schreie der Gebärenden, die in den letzten Wehen lag. Um sechs Uhr morgens war dann plötzlich alles ruhig. Ein Morgen brach an, der in seiner Süße und Stille ganz außergewöhnlich war, und die Sonne schien von einem wolkenlosen Himmel. In einer allerletzten Kraftanstrengung bahnte sich das Mädchen seinen Weg ins Leben und betrachtete aus riesigen blauen Augen das Chaos um sich herum, ohne einen Laut von sich zu geben, so als wollte es die Ruhe nicht stören. 'Sie soll Suzanne heißen', flüsterte ihre Mutter. Sie lehnte sich erschöpft in die Kissen zurück. Sie hätte glücklich sein können über die Geburt ihrer Tochter. Aber ihr Herz war schwer. Denn sie wusste, sie würde nicht lange über sie wachen können. Einen Monat vielleicht noch oder zwei, so lange, wie ihr Mann sie noch im Haus dulden würde. Sie hatte den bittersten Fehler ihres Lebens begangen, als sie sich mit dem Verlobten ihrer Schwester eingelassen hatte. Damit hatte sie das Glück ihrer Familie zerstört. Ihr eigenes, das ihres Mannes Patrick, das ihrer Schwester Madeleine. Und vor allem hatte sie ihre kleine Tochter unglücklich gemacht, die ohne Mutter aufwachsen würde.   Kapitel 1 Suzanne stellte sich auf die Zehenspitzen, um ihre Augen auf die Höhe des münzgroßen Astlochs in der hölzernen Schuppentür zu bringen. Abwechselnd sah sie mit dem linken und dem rechten Auge hindurch, wodurch sich der Bildausschnitt verschob. Sie sah hinaus in den Garten, wo die Olivenbäume in Reihen auf dem terrassierten Gelände wuchsen. Dicht vor der Tür stand der alte Feigenbaum. Der Blitz hatte den Stamm im letzten Jahr während eines Sommergewitters gespalten, und seitdem trug nur noch die eine Hälfte des Baums Früchte. Die andere war abgestorben. Sie hob leicht den Kopf und folgte mit dem Blick dem schwarz verkohlten Haupttrieb, der wie ein gichtiger Finger zum Himmel wies. Vor dem leuchtend grünen Gras, das mit weißen Margeriten und rotem Mohn übersät war, wirkte er doppelt tot. Suzanne drehte den Kopf, wobei ihre Nasenspitze über das raue Holz fuhr, und ein neuer Bildausschnitt erschien: Die rechte Hälfte des Baums trug weißrosa Blüten. Suzanne trat von einem Bein auf das andere und betrachtete abwechselnd den Tod und das Leben. Als hätte sie eine der Tafeln vor Augen, die in der Schule im Magazin hingen und mächtige Bäume im Wandel der Jahreszeiten zeigten. Aber die Schule war für Suzanne, die im Februar siebzehn Jahre alt geworden war, Vergangenheit. An Ostern war sie entlassen worden. Während sie weiterhin durch das Guckloch spähte, achtete sie darauf, ihre Kleidung nicht zu beschmutzen. In dem niedrigen Anbau, der aus denselben dicken, verputzten Felssteinen bestand wie das Haus und als Remise für Gartengeräte und ausgemusterte Möbel diente, war es staubig, der Fußboden war durch Hühnerkot verunreinigt. Als Kind war Suzanne oft hier gewesen, wenn sie allein sein wollte. Sie wusste selbst nicht, was sie an diesem heißen Tag hier suchte. Vielleicht die verschiedenen Perspektiven, die das merkwürdige Guckloch ihr bot. 'Suzanne! Suzanne Godard, wo bist du? Verflixtes Mädchen, nun komm endlich!' Suzanne zuckte unwillkürlich zusammen, obwohl sie wusste, dass ihre Tante sie nicht sehen kon