Beschreibung
Kosmopolitismus, ein Kernbegriff der europäischen Aufklärung, gehört zu den akademischen Modebegriffen der vergangenen Jahre. Dieses Buch lotet erstmals das heuristische Potenzial des Kosmopolitischen für die Geschichtswissenschaften aus. Im Zentrum stehen das konfliktbeladene Aushandeln von Zugehörigkeiten, Ansprüchen und Rechten, die Begegnung mit dem Anderen sowie die normative Reflexion dieser Begegnungen in einer prinzipiell von Ungleichheit und Machtasymmetrien geprägten Welt. Der Band plädiert für Kosmopolitismus als Analyseperspektive, die das konzeptionelle Instrumentarium von transnationaler und Globalgeschichte ergänzt.
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Autorenportrait
Bernhard Gißibl ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Leibniz-Institut für Europäische Geschichte an der Universität Mainz. Isabella Löhr ist Professorin für internationale Geschichte des 20. Jahrhunderts an der FU Berlin. Zugleich leitet sie am Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam die Abteilung 'Globalisierungen in einer geteilten Welt'.
Leseprobe
Vorwort Die in diesem Band versammelten Beiträge gehen zurück auf einen Workshop, der im Herbst 2013 nach dem heuristischen Mehrwert von Kosmopolitismus für die Geschichtswissenschaften fragte. Was hat es eigentlich genau mit diesem "neuen" Kosmopolitismus auf sich, der in so vielen geistes- und sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen Konjunktur hat? Ist es sinnvoll, den Begriff in den Geschichtswissenschaften wieder zu aktivieren? Oder wäre dies gleichbedeutend damit, eine Disziplin, die sich anschickt, eurozentristische Perspektiven zu überwinden, zurück in eines der ältesten Konzepte europäischer Geistesgeschichte zu drängen? Wie könnte eine zeitgemäße Verwendung von Kosmopolitismus insbesondere für die Globalgeschichte aussehen? Diese Fragen waren Gegenstand des Workshops, der gemeinsam vom Europainstitut der Universität Basel und dem Leibniz-Institut für europäische Geschichte (IEG) in Mainz ausgerichtet wurde. Wir danken den Autorinnen und Autoren dieses Bandes für ihre Bereitschaft, sich auf die Frage nach dem analytischen Mehrwert von Kosmopolitismus für ihre eigenen Forschungen so neugierig und bereitwillig eingelassen zu haben. Für uns bedeutete dies eine Fülle an kontroversen und produktiven Diskussionen, in denen wir eine Menge von den Autoren und Autorinnen gelernt und gemeinsam unser Verständnis von Kosmopolitismus geschärft haben. Diese intellektuellen Auseinandersetzungen wurden möglich dank der großzügigen Unterstützung durch das Leibniz-Institut für Europäische Geschichte in Mainz und das Europainstitut der Universität Basel. Unser besonderer Dank gilt daher Madeleine Herren und Johannes Paulmann, den Direktoren der beiden Institute, die uns in unserem Vorhaben bekräftigten und mit Rat und Tat zur Seite standen. Danken möchten wir an dieser Stelle auch Malte Fuhrmann, Richard Hölzl, Fabian Klose, Cornelia Knab, Carolin Kosuch, Daniel Maul und Amalia Ribi Forclaz, die uns in Mainz durch Vorträge, Diskussionsbeiträge oder als Panel Chairs halfen, Thema und Probleme zu präzisieren. Magdalena Nowicka brachte uns mit ihrer Keynote Lecture die sozialwissenschaftliche Perspektive nahe; der jüngst verstorbene Rupert Neudeck gewährte uns in seinem Abendvortrag Einblicke in den gelebten Kosmopolitismus eines humanitären Aktivisten. Die Fertigstellung des Manuskripts profitierte von der umfangreichen Unterstützung durch Manuel Dinkel und Corinna Schattauer und dem prüfenden Blick der Lektoren Joe Paul Kroll im IEG und Jürgen Hotz beim Campus Verlag. Für kritische Lektüre und wertvolle Hinweise zur Einleitung danken wir Gregor Feindt, Dietmar Müller und Klaus Oschema. "But if you believe you are a citizen of the world, you are a citizen of nowhere. You don't understand what citizenship means". Diese im Okto-ber 2016 von der britischen Premierministerin Theresa May gebrauchte Formulierung zeigt, dass die Politik der Gegenwart unsere wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem neuen Kosmopolitismus eingeholt hat. Was 2013 für uns in erster Linie eine fachwissenschaftliche Diskussion war, hat sich seit der rapiden Zunahme von Flüchtlingen in Europa 2014/2015 und den seitdem heftig tobenden politischen Auseinanderset-zungen innerhalb der Europäischen Union sowie in den einzelnen Mitgliedsstaaten in eine handfeste politische Krise gewandelt, die eine Zäsur in der europäischen Nachkriegspolitik bedeuten könnte. Der Zugang zu Rechten unabhängig von nationalstaatlicher Zugehörigkeit sowie Gastfreundschaft als zentraler kosmopolitischer Wert sind innerhalb wie außerhalb Europas heftig umkämpft. Kulturelle Vielfalt als Realität und gesellschaftliche Orientierung sieht sich konfrontiert mit der Forderung nach eindeutigen Identitäten. Zur Disposition steht ein offener Umgang mit Differenz und dem Anderen. Vor diesem Hintergrund verstehen wir unseren Band auch als eine kritische Reflexion über die Frage, mit welchen Themen, Konzepten und Perspektiven die Geschichtswissenschaften im frühen 21. Jahrhundert historisches Orientierungswissen für gegenwärtige Debatten bereitstellen können. Dies kann, so unsere Überzeugung, nur über eine historischkritische Analyse der unterschiedlichen Normen, Werte und Bezugshorizon-te funktionieren, in denen sich unsere Gegenwart abspielt. Mainz und Leipzig, im Oktober 2016 Bernhard Gißibl und Isabella Löhr Die Geschichtswissenschaften vor der kosmopolitischen Herausforderung Isabella Löhr und Bernhard Gißibl "Cosmopolites de tous les pays, encore un effort!" - Weltbürger aller Länder, noch ein Versuch! Mit dieser Abwandlung des berühmten Schlusssatzes des Kommunistischen Manifests adressierte der französische Philosoph Jacques Derrida im März 1996 einen Kongress der Fluchtstädte, der sich beim Europarat in Straßburg versammelt hatte. Derridas Aufruf für eine neue Internationale der Kosmopoliten ist vor dem Hintergrund der aktuellen, sogenannten Flüchtlingskrise in Europa auch 20 Jahre nach seinem Erscheinen politisch relevant. Denn der französische Philosoph forderte damals nicht weniger als eine Neuausrichtung der europäischen Asyl- und Migrationspolitik nach den Grundsätzen kosmopolitischer Gastfreundschaft. Bemerkenswert daran ist, dass sich Derrida explizit den Begriff der Gastfreundschaft aus Immanuel Kants Schrift Zum ewigen Frieden von 1795 zu eigen machte, die er über das von Kant vorgesehene bloße Besuchsrecht hinaus zu einem dauerhaften Gastrecht erweitert wissen wollte. Einer der wichtigsten Denker der Postmoderne, der sein intellektuelles Leben daran gesetzt hatte, die philosophischen und epistemologischen Grundlagen der europäischen Aufklärung zu dekonstruieren, bezog sich also zustimmend auf den "Geist der Aufklärung" und artikulierte politische Reformforderungen mit Hilfe eines ihrer Kernbegriffe. Offenbar unterschied Derrida zwischen der theoretischen Dekonstruktion philosophischer Weltanschauungen einerseits und dem öffentlichen politischen Diskurs mit dem Ziel der Gewährleistung konkreter Rechte andererseits. Derridas Vorschlag einer Reform der europäischen Asylpolitik gehört in eine Reihe von Interventionen prominenter Denker, die sich seit 1989/90 mit Rekurs auf die Begrifflichkeit des Kosmopolitismus um die normative Ausgestaltung der gegenwärtigen Welt- und Gesellschaftsordnung bemühen. Diese Debatten, die seit den späten 1990er Jahren als "Neuer Kosmopolitismus" geläufig sind, nahmen ihren Ausgang in den akademischen Welten Europas und der Vereinigten Staaten. Seit gut zwei Jahrzehnten sind daran Wissenschaftlerinnen, Wissenschaftler und öffentliche Intellektuelle jeder weltanschaulichen Couleur sowie aus allen Kontinenten und Disziplinen beteiligt - mit Ausnahme der Geschichtswissenschaften, die sich bisher auffallend schweigsam verhalten. Intellektuelle, die ihre kosmopolitischen Entwürfe explizit in den Denkzusammenhang der europäischen Aufklärung stellen wie Kwame Anthony Appiah, Daniele Archibugi, Ulrich Beck, Charles Beitz, Seyla Benhabib, Gerard Delanty, Jürgen Habermas, David Held, Martha Nussbaum, Thomas W. Pogge oder jüngst Timothy Garton Ash finden sich ebenso wie postkoloniale oder dekonstruktivistische Kritiker dieser europäischen Tradition wie Etienne Balibar, Homi K. Bhabha, Paul Gilroy, David Harvey, Bruno Latour, Walter Mignolo, Rahul Rao oder Gayatri Chakravorty Spivak. Das Themenspektrum des neuen Kosmopolitismus ist breit; ebenso seine geographische Reichweite sowie Adressaten und Kontexte. Was die Appelle dieser public intellectuals eint, ist die Verquickung von politischer und akademischer Diskussion, das Kreisen um Fragen sozialer und globaler Gerechtigkeit sowie die normative Ausgestaltung des "Zusammengeworfenseins" in einer globalisierten und ungerechten Welt. Während der neue Kosmopolitismus in den Geistes- und Sozialwissenschaften teils begeistert aufgegriffen wurde, fanden die Debatten in den Geschichtswissenschaften erstaunlicherweise bislang kaum Resonanz. Insbesondere transnationale und Globalgeschichte, die...