Beschreibung
Am Vorabend der Reformation, genau vor 500 Jahren, veröffentlichte Thomas Morus ein Buch, das die Sprache um ein neues Wort bereicherte: "Utopia". Berühmt ist der Autor für seine darin entworfene Idealgesellschaft, weniger bekannt jedoch für die satirische Qualität des Werks. In einer Sequenzanalyse entwickelt Oliver Schmidtke eine neue Deutung: Es ist nicht bloß ein utopischer Entwurf einer Idealgesellschaft, sondern eine frühe Soziologie der Aporien des intellektuellen Denkens. Der Protagonist Hythlodaeus verspielt scharfsinnige Einsichten in die sozialen Gründe für gesellschaftliche Missstände am Ende, indem er sich ins Utopische flüchtet.
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Autorenportrait
Dr. Oliver Schmidtke ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 1187 "Medien der Kooperation" an der Universität Siegen.
Leseprobe
Vorwort Die folgende Studie widmet sich einem gelungenen Kunstwerk, das be-sonders im deutschsprachigen Raum kaum in seiner schillernden Qualität erschlossen ist, der Utopia des Thomas More. Die Wahrnehmung des Werks erfolgt häufig durch die Brille seiner literarischen Nachfolger: Uto-pien, die Idealgesellschaften entwerfen. Der Autor More hat jedoch nicht selbst die entworfene Gesellschaft als Ideal empfohlen, sondern pro-blematisiert den Entwurf und seinen Schöpfer - die fiktionale Figur des Raphael Hythlodaeus - durchweg in ironischer Form. Diese Ironie konter-kariert den Ernst eines feierlichen Ideals. Es ist vor allem diese Ironie, die Mores Utopia auch 500 Jahre nach ihrer Publikation noch aktuell erschei-nen lässt. Hat More doch darin künstlerisch ein allgemeines Problem des Nachdenkens über Gesellschaften gestaltet. Dies ist Anlass genug, einen Versuch zu unternehmen, mit einer hermeneutisch-soziologischen Detailanalyse das Erkenntnispotenzial des frühneuzeitlichen Werks zu er-schließen. Frank Schröder und Dr. Daniel Gaus seien für die Durchsicht des Manuskripts und die hilfreichen Korrekturen gedankt. Frankfurt am Main im Juli 2016 I. Einleitung Am Vorabend der Reformation - 1516 - lässt der englische Lordkanzler Thomas More (1478-1535) eine Schrift drucken, die die Sprachen später weltweit um ein neues Wort (dt. "Utopie" bzw. "utopisch") bereichern wird. Die Schrift trägt den Titel: "Vom besten Zustand des Gemeinwesens und der Insel Utopia. Ein wahrhaft goldenes Buch, nicht weniger heilsam als unterhaltend, vom klaren und redegewandten Mann: Thomas Morus - Bürger und Vicecomes der berühmten Stadt London." 1535 wird More für seine Weigerung dem Papsttum abzuschwören und seinem König Heinrich VIII gegenüber den Suprematseid zu leisten, hingerichtet und dafür im 20. Jahrhundert von der katholischen Kirche heiliggesprochen. Berühmt geworden ist diese "epochemachende Schrift" für den darin enthaltenen utopischen Gesellschaftsentwurf, mit dem der Autor More als Begründer einer neuen literarischen Gattung in die Geschichte eingegangen ist, da in den kommenden Jahrhunderten zahlreiche weitere Schriftsteller das Darstellungsmuster des Berichts von einer idealen Gesellschaft nach dem Vorbild der Utopia abwandeln. Die in der Utopia vorgeführte umfassende Thematisierung ganzer Gesellschaften barg offensichtlich eine solche Suggestivität, dass die Darstellungsform von vielen späteren Schriftstellern übernommen wurde. Das Werk bietet jedoch weit mehr als die Darstellung einer Utopie. In seinem Werk lässt der Autor seinen fiktiven Protagonisten Raphael Hythlodaeus zunächst in einem ersten Buch mit den realen Figuren Thomas Morus und Petrus Aegidius darüber debattieren, ob es sinnvoll sei, einem Fürsten als Berater zu dienen und welche Missstände in England und Europa bestehen, um ihm schließlich erst in einem zweiten Buch einen fiktiven Reisebericht von der Insel Utopia in den Mund zu legen. Die nova insula Utopia wird von Hythlodaeus als ein ideales Gemeinwesen geschildert, in dem die Institution des Privatbesitzes abgeschafft sei. Einige der von Hythlodaeus dargelegten Analysen können bis heute Gültigkeit beanspruchen und lassen ihn als einen frühen Soziologen er-scheinen, der gesellschaftliche Strukturprobleme scharfsinnig rekonstruiert. So findet sich eine Rekonstruktion der Abhängigkeit der Diebstahlkriminalität von Motivlagen, die aufgrund der Deklassierung bestimmter gesellschaftlicher Gruppen entstehen, oder Hythlodaeus arbeitet ein eklatantes Missverhältnis der Einkommen für Tätigkeiten, die zur Aufrechterhaltung eines Gemeinwesens unabdingbar sind, und wenig entlohnt werden, zu solchen, die weniger nützlich erscheinen und beklagt, dass einige "ein vornehmes und glänzendes Leben in Muße oder überflüssiger Beschäftigung führ[en], während sich Tagelöhner, Fuhrleute, Handwerker und Bauern mit ihrer so schweren und unablässigen Arbeit [] ohne die überhaupt kein Staat bestehen könnte, doch nur einen so kümmerlichen Lebensunterhalt verdienen."Zentrales Thema des Werks ist jedoch der Entwurf einer Alternativgesellschaft, in der solche Probleme ein für alle Mal beseitigt seien. Der Gesellschaftsentwurf ist jedoch bis zur Absurdität hin inkonsistent und widersprüchlich, so dass Hythlodaeus in seinem Reisebericht seinen sozial-kritischen Scharfsinn letztlich wieder verspielt. Die Utopier missachten zum Beispiel nicht nur grundlegende Voraussetzungen familialer Bindungen, indem sie Kinder von Familien willkürlich an andere Familien verteilen, sondern lehnen Gewalt angeblich so sehr ab, dass sie das Schlachten von Tieren Sklaven überlassen, während sie zugleich keine Hemmungen haben Vernichtungskriege gegen andere Völker zu führen. Diese problematische Qualität der Rede des Hythlodaeus wird durch den Autor More in Form des langen Dialoges entfaltet, im Rahmen dessen More seinen Protagonisten sich dafür rechtfertigen lässt, dass er nicht zum "Helfer des Unsinns" werden möchte, indem er seine Analysen bei Hofe vorträgt. Am Ende lässt der Autor More seine Protagonisten, die mit Hythlodaeus debattieren, zusammen mit den Lesern ratlos zurück und hat somit ein rätselhaftes Kunstwerk gestaltet, in dem man vergeblich gelungene Antworten auf Fragen gesellschaftlicher Strukturprobleme sucht. Einige Merkmale der in dem Buch entworfenen Idealgesellschaft, wie etwa die Abschaffung des Privatbesitzes, befeuerten gleichwohl spätere politische Bewegungen. Inhalte des im zweiten Buch geschilderten Gemeinwesenideals sind Bestandteil historisch folgenreicher Ideologien, zum Beispiel der des Kommunismus bzw. Sozialismus. Auch wenn Engels in seinem Aufsatz Der Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft eine Überwindung der reinen Utopie propagiert, beruft er sich doch auf Inhalte des in dem Buch formulierten Gesellschaftsentwurfs. Die meisten soziologischen, philosophischen und politikwissenschaftlichen Studien zur Thematik der Utopie befassen sich jedoch überraschender Weise kaum detailliert mit der Utopia des Thomas More als der begriffsprägenden Urschrift selbst. Vielmehr werden häufig bestimmte Inhalte, die als Merkmale utopischer Gesellschaftskonstruktionen abstrahiert werden, diskutiert. Utopische Argumentationen erscheinen - vereinfacht betrachtet - häufig in folgender Gestalt: Eine Utopie sei ein auf radikale und grundlegende Kritik bestehender Verhältnisse und ihrer Missstände beruhender Entwurf einer idealen Alternativgesellschaft, die auf anderen Vorausset-zungen beruhe und grundlegend anders verfasst sei, als die kritisierte bestehende Gesellschaft. Da jede Utopie einen Gesellschaftsentwurf präsentiert, ist in ihr notwendiger Weise ein soziologisches Denken enthalten. Allein deshalb schon erscheint eine genauere soziologische Interpretation von utopischen Werken, besonders der Urschrift des Thomas More, sinnvoll. Da der Entwurf der utopischen Gesellschaft so grundlegend anders ist, erscheint er den Angehörigen der bestehenden Gesellschaft als irreal und nicht verwirklichbar. In der Reaktion auf dieses Problem scheiden sich die Geister in diejenigen, die den pejorativen Bedeutungsgehalt des Attributs utopisch hervorkehren und die Beschäftigung mit Utopien als überflüssig betrachten und diejenigen, die die in den Utopien positivierten Ideale affirmieren und auf historische Entwicklung verweisen, die zeigten, dass manche Utopie später irgendwann zur Wirklichkeit wurde, weil ihre Anhänger nie aufgehört hatten, daran zu glauben, dass sich die Utopie zumindest teilweise verwirklichen ließe und sich dafür einsetzten. Die äußerliche Betrachtung der historischen Wirkung der Schrift lässt den schillernden Charakter des Werks und seines Autors erahnen und es stellt sich die Frage, worin die Suggestivität des Buches besteht? Beruht die Wirkung des Buches auf der besonderen historischen Position seines Autors oder lässt sich die außerordentliche Wirkung auch werkimmanent begründen? Hat der Autor Thomas More einen gen...