Beschreibung
Auf den ersten Blick haben Hannah Arendt und Michel Foucault kaum etwas gemein. Tatsächlich beziehen sie sich jedoch auf die identischen Topoi der Philosophiegeschichte - wenn ihre Auslegungen der Quellen auch denkbar verschieden sind. Als Grund hierfür bestimmt Hannah Holme die komplementären Perspektiven der beiden, die sie als Aneignungen des heideggerschen Sorgebegriffs deutet: die ethische Sorge um sich Foucaults und die politische Sorge um die Welt Arendts. Am Ende steht ein Plädoyer für eine Verbindung des machtkritischen Ethos der Sorge um sich mit der Macht des politischen Handelns, das der Sorge um die Welt unterstellt ist.
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Autorenportrait
Hannah Holme, Dr. phil., wurde an der Universität Leipzig promoviert. Sie lebt und arbeitet in Frankfurt am Main.
Leseprobe
Intro: Die praxeologische Geste Unser Leben und unsere Welt geben Anlass zur Sorge. Dieser Satz trifft wohl auf nahezu alle Zeiten und Situationen zu; nicht nur, weil unser eigenes Leben und die Welt, in der wir es führen, von vielen Faktoren und Bedingungen abhängen, die nicht selten ausreichend Gründe bieten, um sich Sorgen zu machen. Darüber hinaus werden Existenz und Welt erst durch die praktische Sorge zu solchen, weil sie hierdurch die ihnen eigene Bedeutung und Gestalt gewinnen. Innerhalb der Philosophie des Lebens, in deren Tradition neben Sokrates, Montaigne und Spinoza auch Heidegger und Foucault verortet werden können, besitzt der Grundgedanke, dass das Selbst- und Weltverhältnis über den praktischen, sorgevollen Umgang konstituiert und gestaltet wird, besondere Relevanz. Er erhält durch den heideggerschen Topos der Sorge eine spezifische Bedeutung. Die Sorge stellt in Sein und Zeit die ontologische Grundstruktur eines jeden Selbst dar, das besorgt, das heißt durch praktische Existenzweisen hervorgebracht und geformt wird. Dieses Primat der Praxis, das die konstitutive Bedeutung praktischer Zusammenhänge für das Selbst- und Weltverhältnis hervorhebt, fungiert in der vorliegenden Arbeit als Tertium comparationis, um die unterschiedlichen Sorgekonzeptionen von Heidegger, Foucault und Arendt zu vergleichen. Auch wenn ihre Biographien und Werke deutliche Differenzen aufweisen, gehen doch alle drei davon aus, dass die Einzelnen ihr Wesen wie die Beziehung zu sich und der Welt über konkrete Praktiken hervorbringen. Zugleich divergiert diese Denkfigur entsprechend ihrer unterschiedlichen Auffassungen von Praxis. Ziel der Arbeit ist zum einen, die Sorgebegriffe von Arendt und Foucault als kritische Aneignungen derjenigen Denkfigur Heideggers zu rekonstruieren, die dem Primat der Praxis verpflichtetet ist. Zum anderen dienen Arendts politische Sorge um die Welt und Foucaults Sorge um sich als Analysekategorien, um ihre komplementären Auslegungen identischer philosophischer Begriffe und kulturhistorischer Topoi zu untersuchen. Hierfür wird die Denkfigur, die Heideggers Sorgebegriff inhärent ist, expliziert und ihre Bedeutung für Foucaults Untersuchung der Sorge um sich und Arendts Verständnis der Sorge um die Welt nachgewiesen. Alle drei entwickeln auf der Kontrastfolie des Cartesianismus die Konzeption eines Selbst, dessen Wesen und Beziehung zu sich und der Welt nicht primär durch kognitive Bewusstseinsprozesse, sondern durch konkrete Praktiken innerhalb lokal spezifischer und historisch variabler Praxiszusammenhänge gestaltet wird. Doch während Heidegger diese Denkfigur innerhalb des fundamentalontologischen Projekts situiert, transferiert sie Foucault durch die Untersuchung der Sorge um sich in den ethischen, Arendt hingegen über die Sorge um die Welt in den politischen Kontext. Im Gegensatz zu Heidegger, der sich der Unterstellung ethischer und politischer Implikationen seines Sorgebegriffs verweigerte, heben Foucault und Arendt gerade diese Aspekte durch die kritischen Aneignungen des Topos der Sorge hervor. Dabei beschäftigen sie sich unter Rückgriff auf Sokrates und Kant mit dem Verhältnis von Philosophie und Politik, wobei dieser Auseinandersetzung divergierende Machtbegriffe zugrunde liegen. Dass sie trotz der auffallenden Ähnlichkeiten ihres Untersuchungsgegenstands zu nahezu konträren Einschätzungen kommen, lässt sich wiederum auf die Sorge um sich und die Sorge um die Welt zurückführen. Denn ihr jeweiliges Verständnis von Sorge stellt nicht nur einen Untersuchungsgegenstand, sondern auch die Perspektive dar, aus der sie die Beziehung von Philosophie und Politik betrachten. Während Foucaults Auseinandersetzung mit der antiken Philosophie und Polis durch das Interesse an der ethischen Haltung und Praxis der Selbstsorge geleitet ist, wird Arendts Darstellung des gleichen Gegenstands durch den politischen Blickwinkel der Sorge um die Welt bestimmt. Die politische Aktualität und Relevanz, die diesen komplementären Perspektiven zukommt, wird abschließend hervorgehoben, um den Ausblick auf eine kritische Haltung zu eröffnen, welche die Sorge um sich mit der Sorge um die Welt verbindet. Die Geste als Denk- und Beziehungsweise Um Foucaults Untersuchung der Sorge um sich und Arendts Sorge um die Welt zu Heideggers Sorgekonzeption ins Verhältnis zu setzen, wird die dem Primat der Praxis verpflichtete Denkfigur als praxeologische Geste bezeichnet. Dieser Begriff findet sich in keinem der hier behandelten Texte, sondern fungiert lediglich als Analyseinstrument. Er mag auf den ersten Blick nicht nur etwas bemüht, sondern auch wie ein Pleonasmus klingen; schließlich stellt eine Geste stets eine Praxis dar. Dass diese Bezeichnung dennoch gewählt wurde, liegt in der spezifischen und erklärungsbedürftigen Bedeutung der Begriffe der Geste und der Praxeologie begründet. Der Begriff der Geste weist mehrere Merkmale auf, die zur näheren Beschreibung der Bezugnahme von Arendt und Foucault auf Heideggers Werk dienen können. Zu diesen gehört maßgeblich der performative Charakter der Geste, das Moment der Wiederholung, dem die Ambivalenz von Konvention und Transformation eingeschrieben ist sowie ihr Pathos, der sich unter anderem aus der Verweigerung von Rechtfertigung speist. Unter einer Geste wird gemeinhin eine Bewegung des Körpers verstanden, die Worte begleitet oder ersetzt. Sie ist Trägerin einer Bedeutung, die nicht expliziert und reflektiert wird, sondern in der körperlichen Bewegung selbst aufgeht. Dieser implizite Charakter trifft auch auf die Bezugnahme von Foucault und Arendt auf Heideggers Denken zu. Beide vermeiden direkte Kommentare und Urteile über ihn und weisen in ihren theoretischen Schriften nicht aus, welche Aspekte seines Werks in ihre eigenen Überlegungen einfließen. Diese bewusste Zurückhaltung war für Foucault nach eigenen Angaben ein Ausdruck der besonderen Stellung, die ein uvre für ihn hatte. In einem seiner letzten Interviews erklärt er: "[I]ch habe niemals etwas über Heidegger geschrieben, und über Nietzsche habe ich nur einen ganz kleinen Artikel geschrieben; dennoch sind dies die beiden Autoren, die ich am meisten gelesen habe. Ich glaube, daß es wichtig ist, eine kleine Anzahl von Autoren zu haben, mit denen man denkt, mit denen man arbeitet, aber über die man nicht schreibt. Ich werde eines Tages vielleicht über sie schreiben, doch dann werden sie für mich keine Denkinstrumente mehr sein." (DE4/354: 868) Durch diese Aussage evoziert Foucault den Effekt, dass gerade das Schweigen über Heideggers Werk dessen Relevanz für sein eigenes Schaffen potenziert. Nicht obwohl, sondern weil Heidegger eine so zentrale Bedeutung für ihn hat, vermeidet er in seinen eigenen Publikationen explizite Referenzen auf dessen Schriften. Den gleichen Eindruck vermittelt Arendt. Auch wenn sie sich ausführlich und ihr Leben lang mit Heideggers Arbeiten auseinandersetzt, findet diese intensive Beschäftigung keinen entsprechend deutlichen Ausdruck in ihren theoretischen Abhandlungen. Heideggers Schriften sind nicht Gegenstand ihrer Veröffentlichungen, weil Arendt wie Foucault mit seiner Hilfe ihre eigene Forschungsperspektive auf Phänomene und Fragestellungen entwickelt. Weil beide mit ihm denken, schreiben sie nicht über ihn. Gerade durch den Verzicht auf dezidierte Referenzen oder metatheoretische Kommentare entsteht hierdurch eine besondere Nähe zu heideggerschen Motiven, die sie sich über den stillschweigenden Vollzug zu eigen machen. Anstatt über Heideggers Werk zu sprechen und es dadurch zu objektivieren, verleiben sie sich bestimmte Topoi und Figuren in praktischen Denk- und Schreibprozessen ein. Hierdurch vermeiden sie die Distanznahme, die mit der Reflexion und Explikation von Tätigkeiten und Verhältnissen oftmals verbunden ist. Die Diskrepanz zwischen der großen Relevanz, die das Denken Heideggers für Foucault und Arendt hat, und der relativ geringen Anzahl an öffentlichen Stellungnahmen zu ihm und seinem Werk, lässt sich mith...