Beschreibung
Dass Menschen absichtsvoll handeln, dass sie planen und Strategien ausarbeiten, zeigt sich im Alltag ebenso wie in historischen Quellen. Zu erforschen, welche Motive und Überzeugungen mittelalterliche Akteurinnen und Akteure zum Handeln veranlasst haben, ist eine methodologische und theoretische Herausforderung, der sich die Mediävistik bislang selten gestellt hat. Der Band geht diesen Fragen anhand von Fallbeispielen nach und gibt damit Anstöße zu einer historischen Intentionalitätsforschung.
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Julia Berke-Müller
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Autorenportrait
Jan-Hendryk de Boer, Dr. phil., ist als Postdoc am Graduiertenkolleg 'Vorsorge, Voraussicht, Vorhersage. Kontingenzbewältigung durch Zukunftshandeln' an der Universität Duisburg-Essen tätig. Marcel Bubert, Dr. phil., ist wiss. Mitarbeiter am Historischen Seminar der Universität Münster.
Leseprobe
Absichten, Pläne und Strategien erforschen: Einleitung JanHendryk de Boer, Marcel Bubert Ist Intentionalität ein Thema der Geschichtswissenschaft? Es gäbe manche Gründe dafür, diese Frage verneinend zu beantworten. Bereits ein rascher Blick in einschlägige geschichtstheoretische und -methodologische Darstellungen und Handbücher zeigt, dass die Rolle von Intentionalität und geistigen Zuständen historischer Akteurinnen und Akteure - von der Ausnahme der ideengeschichtlichen Diskussion abgesehen - nur selten thematisiert wird. Ein anderes Bild ergeben konkrete Studien: Hier wird zwar ebenfalls nur in Ausnahmefällen das Phänomen der Intentionalität theoretisch eingeholt, zugleich finden sich jedoch in großer Regelmäßigkeit Aussagen zu Absichten, Plänen und Strategien, die Handelnde verfolgt hätten. Banaler Weise macht es in der historischen Erklärung einen Unterschied, ob ein Herrscher unbeabsichtigt durch eine als Unfall anzusehende Handlung starb, oder ob er absichtlich ermordet wurde. Immer wieder stellt sich die Frage, ob Akteure mit ihrem Handeln einen größeren Plan verfolgten und bestimmte Ziele anstrebten oder ob ihr Handeln rein situativ motiviert war. War die Krise der römischen Republik im 1. Jahrhundert v. Chr. ein sich individueller Beeinflussung weitgehend entziehender Prozess, oder nutzten personale und kollektive Akteure strategisch Offenheiten, die ihnen aus strukturellen Gegebenheiten erwuchsen? War die sogenannte karolingische Renaissance durchweg oder überwiegend Resultat gezielter Anstrengungen von Hof und Kirche? Gab es eine planvolle ottonische Rom- und Ostpolitik, oder sind die entsprechenden Maßnahmen als reaktive Antworten auf je aktuelle Herausforderungen zu verstehen? Plante man im Vierten Kreuzzug die Eroberung Konstantinopels, oder war diese ein Betriebsunfall? Beabsichtigten die Wittenberger und Zürcher Theologen der 1510er und 1520er Jahre zunächst eine Reform der Kirche von innen heraus, oder strebten sie einen Bruch mit der bestehenden institutionellen Ordnung an? War die Umgestaltung des Systems der Hohen Schulen im späten 17. und 18. Jahrhundert, die sich etwa in der Gründung der Aufklärungsuniversitäten Halle und Göttingen organisatorisch manifestierte, planvolles Handeln oder ein emergentes Phänomen? Schlitterten die Politiker im Jahre 1914 schlafwandlerisch in einen großen Krieg hinein, oder gab es einflussreiche Gruppierungen, die einen solchen möglicherweise nicht wünschten, aber doch als Risiko einkalkulierten? Ist es Resultat strategischen Handelns, dass es marginalisierten Gruppen im Laufe des 20. Jahrhunderts in verschiedenen Gesellschaftssystemen gelang, Agency zu erwerben und hegemoniale Ordnungen, wenn nicht aufzulösen, so doch zu verändern? All diese Fragen, so glauben wir, lassen sich nicht befriedigend beantworten, ohne auf Absichten, Pläne und Strategien der beteiligten Akteurinnen und Akteure zu rekurrieren. 1. Was bisher geschah: Intentionalität und Geschichtswissenschaft Die Unbekümmertheit, mit welcher die historische Forschung derartige Fragen nicht selten mit sehr konkreten Aussagen über das Wollen, die Absichten und Ziele der Akteure beantwortet, ohne ihre intentionalistischen Annahmen theoretisch zu reflektieren, steht freilich in einem durchaus merkwürdigen Widerspruch zu der Tatsache, dass in den jüngeren historischen Kulturwissenschaften im Zeichen von Körpergeschichte, Materialität und Praxeologie die Rückführung von Praktiken auf Mentales teils heftig kritisiert und einem Mentalismus eine entschiedene Absage erteilt wurde. Stattdessen wurde für eine Dezentrierung des Subjekts plädiert, die zugleich als Dezentrierung des Mentalen verstanden wurde. Jedenfalls erscheint es zunächst verwunderlich, dass so häufig leichtfertig von Intentionen die Rede ist, obwohl die leitenden Theoriekonzepte der neueren Kulturwissenschaft gerade solche Erklärungsmodelle etabliert haben, in denen intentionales Handeln teilweise offensiv abgelehnt, teilweise zugunsten anderer Aspekte in den Hintergrund gedrängt wird. Die Depotenzierung oder Ausklammerung des handelnden und die Geschichte bestimmenden Subjekts hat eine lange und vielschichtige Vorgeschichte, die bis heute nachwirkt und für das hier zu diskutierende Problem von zentraler Bedeutung ist. Während noch etwa Friedrich Meinecke, als repräsentative Figur der deutschen Geschichtswissenschaft in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der Krise des Historismus mit einer umso entschiedeneren Betonung von Individualität und menschlicher Freiheit begegnete und weiterhin davon sprach, dass der "Geist [] eine geschichtliche Welt hat erschaffen können", so wurde der Status des intentionalen Subjekts im Laufe des Jahrhunderts in verschiedenen Kontexten zunehmend prekär. Die Subjektkonzeption, die sich als cogito oder transzendentale Instanz in der Tradition von Descartes und Kant sowie wenig später als schöpferisches Individuum im ästhetischen Diskurs der Romantik herausgebildet hatte, erfuhr bereits mit Freuds Kategorie des Unbewussten oder Heideggers Betonung einer gegenüber dem Einzelnen übermächtigen Ereignishaftigkeit der Geschichte eine entschiedene Relativierung. Von besonderer Relevanz für die Zurücksetzung des Subjekts in der Geschichtswissenschaft, um die es hier primär geht, wurde allerdings einerseits der Marxismus, dessen den dialektischen Prozess privilegierende Geschichtsphilosophie für Intentionalität wenig Raum ließ, vor allem aber andererseits die Strukturgeschichte in ihren französischen wie deutschen Spielarten. Die Schule der Annales propagierte in Frankreich eine Form der Sozialgeschichte, die bewusst nicht mehr die Handlungen einzelner Personen, sondern gesellschaftliche Strukturen und langfristige Entwicklungen (in der longue durée) in den Blick nahm. Fernand Braudel, der wesentlich den Begriff der longue durée prägte, betonte in seiner berühmten Habilitationsschrift über Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II. von 1949 wiederholt die Vorrangigkeit größerer Strukturen gegenüber den partikularen Handlungen der Individuen. Diese tendenzielle Ausklammerung des Subjekts zugunsten von Strukturen und Prozessen fand in der deutschen Gesellschaftsgeschichte, prominent mit dem Namen Hans-Ulrich Wehlers verbunden, eine wirkmächtige Entsprechung. Die prinzipielle Rolle, die dem handelnden Subjekt in der Strukturgeschichte zugewiesen wurde, hat nicht ganz zufällig eine einschlägige Parallele in jener Denkrichtung des 20. Jahrhunderts, die als Strukturalismus bezeichnet wird. Nicht zuletzt angeregt durch die Begegnung mit dem Linguisten Roman Jakobson zu Beginn der 1940er Jahre, war es insbesondere Claude Lévi-Strauss, der die Methode der von Ferdinand de Saussure begründeten strukturalen Sprachwissenschaft auf die Untersuchung nichtlinguistischer Phänomene übertrug und damit das Denken in Positionen und Differenzen, in Strukturen, zum zentralen Prinzip seiner strukturalen Anthropologie machte. Das Erkenntnisziel der Analysen von Mythen oder Verwandtschaftssystemen, die Lévi-Strauss vornahm, besteht darin, durch "allmähliche Vereinfachungen" das "Strukturgesetz" eines kulturellen Zusammenhangs, im Sinne einer invarianten Metastruktur, zu erschließen. Intentionale Subjekte spielen auch hier keine Rolle. Die Überbetonung der Struktur zuungunsten des Subjekts, die sich sowohl im Strukturalismus als auch in der Sozialgeschichte französischer und deutscher Prägung manifestiert, sollte freilich in dieser Form nicht unwidersprochen bleiben. Schon die Mentalitätsgeschichte rückte Phänomene des Mentalen, allerdings vorrangig auf der Ebene von Kollektiven, ins Zentrum ihrer Untersuchungen. In kritischer Auseinandersetzung sowohl mit der Mentalitäts- wie der Strukturgeschichte haben die Historische Anthropologie und die Alltagsgeschichte seit Beginn der 1980er Jahre wieder eine stärkere Aufmerksamkeit für das sinnstiftende Handeln historischer Individuen gefordert. Ausgehend von Clifford Geertz' an Max Weber angelehnte De...