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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783813503753
Sprache: Deutsch
Umfang: 256 S.
Format (T/L/B): 2.5 x 22.1 x 14.5 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Über den Niedergang einer Familie - das neue Meisterstück der Autorin von 'Suite française' Satt, selbstzufrieden und in der wohligen Gewissheit, dass sich nie etwas ändern wird: Die Fabrikantenfamilie Hardelot aus der französischen Provinz wiegt sich vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs in trügerischem Glück. Doch innerhalb einer Generation wird ihre bürgerliche Welt für immer hinweggefegt. Im Frühjahr 1940 beginnt Irène Némirovsky die Arbeit an einem Buch, das ganz in der Tradition des großen europäischen Familienromans steht. Über Jahre hat sie die träge Selbstzufriedenheit der bürgerlichen Kreise, in denen sie verkehrte, beobachtet. Sie hat erlebt, wie diese Familien sich in Sicherheit wiegen und sich weigern, die Zeichen der Zeit zu erkennen. Nun will Némirovsky ihnen den Spiegel vorhalten. Der Roman, der unmittelbar vor 'Suite française' entstand, wurde erst posthum 1947 veröffentlicht und ist der illusionslose Abgesang auf ein Bürgertum, das feige vor der Wirklichkeit die Augen verschließt.Ein großer Familienroman und zugleich ein Sittengemälde des französischen Bürgertums und seines Verfalls.

Autorenportrait

Irène Némirovsky wird 1903 als Tochter eines jüdischen Bankiers in Kiew geboren. Vor der Revolution von 1917 flieht die Familie und lässt sich in Paris nieder. Irène etabliert sich als Star der französischen Literaturszene. Bei Ausbruch des Zweiten Weltkrieges flieht sie mit ihren Töchtern in die Provinz, wird 1942 verhaftet und stirbt in Auschwitz. Erst sechzig Jahre später wird sie wiederentdeckt. "Suite française" wird zum Weltbestseller.

Leseprobe

Sie waren beisammen, sie waren glücklich. Die wachsame Familie schob sich zwischen sie und trennte sie mit unerbittlicher Sanftmut, aber der junge Mann und das junge Mädchen wußten, daß sie einander nahe waren; alles übrige verblaßte. Es war ein Herbstabend am Ufer des Ärmelkanals, zu Beginn dieses Jahrhunderts. Pierre und Agnès, die Eltern der beiden sowie Pierres Verlobte warteten auf das letzte Feuerwerk der Saison. Auf dem feinen Sand der Dünen bildeten die Bewohner von Wimereux-Plage dunkle, kaum von den Sternen erhellte Gruppen. Rings um sie wehte die feuchte Seeluft. Tiefer Friede lag über ihnen, über dem Meer und über der Welt. Die Familien verkehrten nicht miteinander; sie gehörten dem kleinen und mittleren Bürgertum an. Eine jede wahrte bescheiden, standhaft und würdevoll ihren Platz und ihre Distanz. Eine jede umgab sich mit einem Wall aus Schaufeln und Klappstühlen. Eine jede respektierte gewissenhaft die Parzelle des nächsten und verteidigte höflich, aber unnachsichtig die ihre: gleich dem gut gehärteten Schwert, das sich biegt, aber nicht bricht. Die Mütter murmelten: 'Faß das nicht an, es gehört dir nicht. Verzeihen Sie, Madame, dieser Platz gehört meinem Sohn, und der hier ist meiner. Paß auf deine Spielsachen auf, sonst wird man sie dir wegnehmen.' Der Tag war schwer von Gewittern gewesen, die sich unablässig zusammenzubrauen schienen, aber nicht losbrachen. Agnès dachte, wie herrlich es wäre, die nackten Füße ins Wasser zu tauchen. Aber man ging nur in der Mittagssonne und inmitten einer großen Menschenmenge ins Meer, was in gewisser Weise die Sittsamkeit eines Mädchens schützte. Sie hörte Pierres Seufzer: Er klagte über die Hitze. Er trug eine dunkle Jacke und einen steifen Kragen; sie erkannte ihn an diesem Weiß, das schwach im Dunkel schimmerte. Er lag in der Mulde der Düne und wedelte ungeduldig mit den Armen. Seine Mutter sagte: 'Aber Pierrot, halt dich doch ruhig', wie damals, als er zwölf Jahre alt gewesen war. Und obwohl er jetzt vierundzwanzig war, besaß diese zärtliche und autoritäre Stimme soviel Macht über ihn, daß er ihr noch immer gehorchte. Simone, Pierres Verlobte, saß zwischen Agnès und ihm; er wandte sich ab, um den hellen Streifen ihres Gürtels und ihre schweren, milchweißen Arme nicht zu sehen. Diese Simone schien aus Milch, Butter und Sahne zu bestehen, dachte er. Es war seltsam: Oft hatte er mit Vergnügen ihr frisches, fettes Fleisch betrachtet, ihre weiche, füllige Taille, ihr rotes Haar. Doch seit einiger Zeit lag sie ihm im Magen wie ein zu mehliges, zu süßes Gericht. Dabei waren sie verlobt. In der nächsten Woche sollte das große offizielle Verlobungsessen die beiden Familien vereinen. Agnès und er hatten keine Hoffnung. So wenig Hoffnung, daß sie einander nicht einmal ihre Liebe gestanden hatten. Es war sinnlos. Pierre Hardelot war der Sohn der Papierfabrik Hardelot von Saint-Elme. Die Eltern von Agnès waren Bierbrauer. Nur ein Fremder, jemand von außen, konnte eine Verbindung zwischen ihnen für möglich halten. Die Leute von Saint-Elme aber täuschten sich nicht; sie erkannten mit unfehlbarem Scharfsinn und Feingefühl den Gegensatz dieser gesellschaftlichen Stellungen. Diese Bierbrauer waren vulgärer Herkunft, und da sie zudem aus Flandern kamen, gehörten sie nicht in diese Gegend. Die Hardelots stammten aus Saint-Elme, und es gab noch weitere Hindernisse. Pierre hätte verzweifelt sein müssen, doch trotz allem fühlte er sich glücklich. Agnès war da. Sie waren beisammen. Das Feuerwerk verzögerte sich. Die Männer gestatteten sich einige Zwanglosigkeiten; sie streckten die Beine aus, stützten sich auf einen Ellbogen. 'Aber niemand lümmelt sich so wie du. Das tut man nicht', sagte Pierres Mutter ihm ins Ohr. Die Frauen blieben mit steifem Oberkörper auf der Erde sitzen wie auf den Stühlen eines Salons, wobei der Rock züchtig die Knöchel bedeckte. Wenn das vom Wind gezauste bleiche Gras ihre Waden streifte, preßten sie mit schamvollen Bewegungen ihre Beine zusammen. Ihr Kleider w