Beschreibung
Ein Mädchen ist verschwunden, Oberschülerin, Tochter eines Straßenbahnfahrers - Brüdering lässt dieses Mädchen suchen. Dabei sollte man meinen, dass ein Oberbürgermeister andere Sorgen hat in diesen drei Tagen unseres Lebens: Konz ist gekommen, der neue Parteisekretär. Er will durchsetzen, was der OB für undurchführbar hält: Schneisen hauen quer durch die Stadt, die in Jahrhunderten gewachsen ist und angefüllt mit Menschenschicksalen, Verkehrsadern schlagen quer durch Häuser und Wohnungen und Plätze. Eine Stadt ist kein Wald. Man kann nicht mit einem Federstrich ausstreichen, was Generationen geschaffen haben. Gibt es einen anderen Weg als den der Feindschaft zwischen den Genossen Brüdering und Konz? Und dann fragt sich einer, was die wahren Geschichten hierzulande sind.LESEPROBE:Später dann, nach der bösen Geschichte, die sein Sohn sich eingebrockt hatte, glaubte ich oft, man brauche dem Jungen nur wie vorher dem Alten zu kommen. Wenn wir ihn für uns gewönnen, dachte ich, wird Ordnung in die Schule einziehen. Ein Dickschädel wie sein Vater. Und vielleicht hatten ihn nur die Lehrer nicht richtig angefaßt. Auch er war der Wortführer seiner Klasse. Intelligent wie Einstein. Auch auf ihn schworen die Mitschüler. Außer in Mathematik, Physik und Chemie störte er jeden Unterricht. In Staatsbürgerkunde fragte er, ob Marx nicht nur ein Phantast gewesen sei, ähnlich wie Christus, in den Deutschstunden, warum nicht dieses oder jenes moderne Stück westlicher Autoren auf dem Lehrplan stünde. Er zitierte, ohne darum gebeten worden zu sein, ganze Passagen aus Dürrenmatts »Physikern«, das Buch hatte er der Bibliothek seines Vaters entnommen. Goethe hinge ihm schon zum Halse heraus, sagte er, und immerzu sozialistischer Realismus, das wär auf die Dauer langweilig. Koblenz zuckte dazu mit den Schultern. »Ich möchte auch nicht nur immer Kasernen bauen.« Ich hatte ihn angeschrien. Mir gehen selten die Nerven durch. An diesem Tage jedoch war es geschehen. »Ihre Arroganz«, schrie ich, »stinkt zum Himmel. Und soweit sie Ihren Sohn betrifft, gleicht sie einer fahrlässigen Tötung.« Doch was dachte er jetzt? Er saß noch immer still und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf Konz. Vielleicht dachte er nur, was gestern auch ich noch gedacht hatte. Kommst hier hereingeschneit, Konz, wie Habakuk unter die Löwen.Gerhard, sein Sohn, las also Dürrenmatt. Die Physiker, sagte er, die entsprächen schon vom Titel her seinem Geschmack, kein schnulziges Drumherum von wegen Herz und so.
Autorenportrait
Geboren 21. Juni 1931 in Schönebeck/Elbe, Studium der Philosophie und Publizistik an der Universität Leipzig, Diplom 1953, bis 1960 Kultur- und Wirtschaftsredakteur in Halle, Reporter.Seit 1962 freischaffender Schriftsteller, Mitglied der Akademie der Künste der DDR 1974-1991, Mitglied des Schriftsteller-Verbandes Deutschlands.Erik Neutsch ist am 20. August 2013 in Halle verstorben.VeröffentlichungenRomane:Spur der Steine, Halle 1964, Bergisch-Gladbach 1991, München 1994, Leipzig 1996 (35 Aufl.)Auf der Suche nach Gatt, Halle 1973, Benshausen 2009 (15 Aufl.)Der Friede im Osten, bisher 4 Bände, Halle 1974-1987 (29 Aufl.)Totschlag, Querfurt 1994 (2 Aufl.)Nach dem großen Aufstand - Ein Grünewald-Roman, Leipzig 2003, Dößel 2010 (2 Aufl.)Erzählungen:Die Regengeschichte, Halle 1960 (3 Aufl.)Die zweite Begegnung, Halle 1961Bitterfelder Geschichten, Sammelband, Halle 1961 (3 Aufl.)Die anderen und ich, Sammelband, Halle 1970 (5 Aufl.)Tage unseres Lebens, Leipzig 1973Heldenberichte, Sammelband, Berlin 1976Akte Nora S., Berlin 1976Der Hirt, Halle 1978, Berlin 1998Zwei leere Stühle, Halle 1979 (10 Aufl.)Forster in Paris, Halle 1981, Querfurt 1994 (3 Aufl.)Claus und Claudia, Halle 1989 (3 Aufl.)Stockheim kommt, Berlin 1998Verdämmerung, Kückenshagen März 2003 (2 Auflagen)Kinderbücher:Olaf und der gelbe Vogel, Berlin 1972 (5 Aufl.)Vom Gänslein, das nicht fliegen lernen wollte, Leipzig 1995.Bühnenwerke:Haut oder Hemd, Schauspiel, Urauff. Halle 1971Karin Lenz, Opernlibretto zur Musik von Günter Kochan, Urauff. Deutsche Staatsoper Berlin 1971Haut oder Hemd, Text und Dokumentation, Halle 1972Da sah ich den Menschen, Dramatik und Gedichte, Berlin 1983Die Liebe und der Tod, Gedichtband, Halle 1999Mitautor in ca. 70 Anthologien und Sammelbänden.Filme (nach seinen Texten):Spur der Steine, DEFA 1966Die Prüfung, DEFA 1967Akte Nora S., Deutscher Fernsehfunk 1975Auf der Suche nach Gatt, DFF 1976Zwei leere Stühle, DFF 1982Übersetzungen seiner Texte in über 20 Sprachen.Verkaufte Bücher (ohne Anthologien): ca. 2,2 Millionen in Deutschland.Auszeichnungen u.a.:Nationalpreis der DDR für Kunst und Literatur 1964 und 1981Heimich-Mann-Preis der Akademie der Künste der DDR 1971Kunstpreis der Stadt Halle 1971Händelpreis der Stadt Halle 1973
Leseprobe
Später dann, nach der bösen Geschichte, die sein Sohn sich eingebrockt hatte, glaubte ich oft, man brauche dem Jungen nur wie vorher dem Alten zu kommen. Wenn wir ihn für uns gewönnen, dachte ich, wird Ordnung in die Schule einziehen. Ein Dickschädel wie sein Vater. Und vielleicht hatten ihn nur die Lehrer nicht richtig angefaßt. Auch er war der Wortführer seiner Klasse. Intelligent wie Einstein. Auch auf ihn schworen die Mitschüler. Außer in Mathematik, Physik und Chemie störte er jeden Unterricht. In Staatsbürgerkunde fragte er, ob Marx nicht nur ein Phantast gewesen sei, ähnlich wie Christus, in den Deutschstunden, warum nicht dieses oder jenes moderne Stück westlicher Autoren auf dem Lehrplan stünde. Er zitierte, ohne darum gebeten worden zu sein, ganze Passagen aus Dürrenmatts »Physikern«, das Buch hatte er der Bibliothek seines Vaters entnommen. Goethe hinge ihm schon zum Halse heraus, sagte er, und immerzu sozialistischer Realismus, das wär auf die Dauer langweilig. Koblenz zuckte dazu mit den Schultern. »Ich möchte auch nicht nur immer Kasernen bauen.« Ich hatte ihn angeschrien. Mir gehen selten die Nerven durch. An diesem Tage jedoch war es geschehen. »Ihre Arroganz«, schrie ich, »stinkt zum Himmel. Und soweit sie Ihren Sohn betrifft, gleicht sie einer fahrlässigen Tötung.« Doch was dachte er jetzt? Er saß noch immer still und starrte mit zusammengekniffenen Augen auf Konz. Vielleicht dachte er nur, was gestern auch ich noch gedacht hatte. Kommst hier hereingeschneit, Konz, wie Habakuk unter die Löwen.Gerhard, sein Sohn, las also Dürrenmatt. Die Physiker, sagte er, die entsprächen schon vom Titel her seinem Geschmack, kein schnulziges Drumherum von wegen Herz und so, ohne Sentimentalität. Außerdem stünd es dort pari pari, Physik bleibt Physik, ob Atom von den Russen oder Atom von den Amerikanern, a verhält sich zu a wie a. Abends spielte er Jazz. Und als der Beat aufkam, gründete er an der Schule sogleich eine diesbezügliche Kapelle. Sie trafen sich in einem abgelegenen Keller, den sie ausgebaut hatten. Die Entwürfe stammten von Gerhard. An die Wände hängten sie Bilder von langhaarigen Sängerknaben, pausbäckigen, Trompete blasenden Negern und leichtbekleideten Damen, Bibelsprüche, gemischt mit Zitaten von Politikern aus aller Herren Länder, wobei eins dem anderen widersprach, Kennedy aber in Mehrheit vertreten war, und Verkehrsschilder, die sie von den Straßen montiert hatten und denen sie eine mehr flach- als tiefsinnige Bedeutung gaben. Mitten in einer Kollektion von entblößten Frauen hing das Schild:Achtung! Mehrere Kurven. Zwischen zwei Illustriertenfotos, deren eines ein ausgebranntes Personenauto mit verkohlten, verstümmelten Leichen darin und deren anderes einen amerikanischen Soldaten zeigte, der einem zu Tode gefolterten Vietnamesen den Stiefel in den Nacken stellte, ein Stoppschild mit darübergeklebter Aufschrift: Du sollst nicht töten ... Als wir damals die Räume betraten, schritten wir zunächst durch mehrere schwarze Vorhänge. Mir war verdammt makaber zumute. Ich fragte mich: Bist du inzwischen zu alt, zu verkalkt, daß du die Scherze der Jugend nicht mehr verstehst? Welchen Unsinn haben wir in diesem Alter getrieben? Achtzehn, da verkrochen wir uns ebenfalls heimlich in Keller und lasen Majakowski und Gorki. Koblenz aber sagte: »Gut, die Nackedeis an den Wänden müssen nicht sein. Doch sehen Sie hier, die beiden Bilder mit den entsetzlichen Leichen. Die Jungs haben auf ihre Art Ideale ...«
Informationen zu E-Books
„E-Book“ steht für digitales Buch. Um diese Art von Büchern lesen zu können wird entweder eine spezielle Software für Computer, Tablets und Smartphones oder ein E-Book Reader benötigt. Da viele verschiedene Formate (Dateien) für E-Books existieren, gilt es dabei, einiges zu beachten.
Von uns werden digitale Bücher in drei Formaten ausgeliefert. Die Formate sind EPUB mit DRM (Digital Rights Management), EPUB ohne DRM und PDF. Bei den Formaten PDF und EPUB ohne DRM müssen Sie lediglich prüfen, ob Ihr E-Book Reader kompatibel ist. Wenn ein Format mit DRM genutzt wird, besteht zusätzlich die Notwendigkeit, dass Sie einen kostenlosen Adobe® Digital Editions Account besitzen. Wenn Sie ein E-Book, das Adobe® Digital Editions benötigt herunterladen, erhalten Sie eine ASCM-Datei, die zu Digital Editions hinzugefügt und mit Ihrem Account verknüpft werden muss. Einige E-Book Reader (zum Beispiel PocketBook Touch) unterstützen auch das direkte Eingeben der Login-Daten des Adobe Accounts – somit können diese ASCM-Dateien direkt auf das betreffende Gerät kopiert werden.
Da E-Books nur für eine begrenzte Zeit – in der Regel 6 Monate – herunterladbar sind, sollten Sie stets eine Sicherheitskopie auf einem Dauerspeicher (Festplatte, USB-Stick oder CD) vorsehen. Auch ist die Menge der Downloads auf maximal 5 begrenzt.