Beschreibung
1633 wütete die Pest in Oberammergau. In höchster Not schlug die Gemeinde Gott einen Handel vor: Würde er das Dorf von der Pest befreien, wolle man fortan alle zehn Jahre das Spiel von Leiden, Sterben und Auferstehung Jesu Christi aufführen. Von da an sei niemand mehr gestorben, und Oberammergau erfüllt seine Vertragspflicht bis heute. Das für 2020 geplante Passionsspiel musste wegen der COVID-19-Pandemie verschoben werden; von Mai bis Oktober 2022 erwartet Oberammergau erneut ca. 500.000 Besucher*innen aus aller Welt. So oder ähnlich ist die Geschichte des Oberammergauer Passionsspiels vielerorts zu lesen. Statt sie noch einmal zu erzählen, fragt dieses Buch danach, was die Institution Oberammergau ist, was sie leistet und warum sie bis heute funktioniert. Es fragt nach historischen Um- und Seitenwegen, nach den politischen, sozialen und ästhetischen Imaginationen, die das Passionsdorf bei seinen Besucher*innen und seinen Einwohner*innen auslöst, nach der Inszenierung von Brüchen und Kontinuitäten und nach der Gegenwart der Passion in einer multiplen Moderne. Dazu verhandelt es Reisedispositive von Oberammergau ebenso wie Raum- und Zeitordnungen des Dorfes, seines Theaters und seines Umlands. Weiterhin untersucht es die literarische Produktivität des Oberammergau-Phänomens, die Hybridisierungen des Spiels und die Heterogenität seiner Schau- und Spielkollektive seit dem 19. Jahrhundert. Schließlich nimmt es auch die Selbstarchivierungen und Selbstpräsentationen der Spielgemeinde und die Dinge der Passion in den Blick, die Konsistenz und Stabilität suggerieren, aber immer wieder anders in Narrative und in performative Zusammenhänge eingebunden sind. Damit bündelt die vorliegende Studie Ergebnisse eines seit 2017 laufenden interdisziplinären Forschungsprojekts, soll aber vor allem Anschlusskommunikationen herausfordern: Zu medievalism und multiplen Modernen, zu heiligem Leid im Theater, zu Ästhetik und Ethik von Institutionalität. Neben einer linearen Lektüre laden ein ausführliches Register und ein Querverweissystem zu einem abschnittsweise springenden oder einem thematisch modularen Lesen ein.
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Matthias Naumann
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Autorenportrait
Jan Mohr (PD Dr.) forscht an der Universität Münster zu Germanistischer Mediävistik und Frühneuzeitforschung, besonders zu sozialen Dimensionen im mittelhochdeutschen Minnesang, zum fragilen Zusammenhalt adliger Gesellschaften in höfischen Romanen und zur Verbindung von Beten, regulierten Atemtechniken und Seufzen in Andachtstexten der Frühen Neuzeit. Julia Stenzel (Prof. Dr.) forscht als Heisenberg-Professorin an der Leibniz Universität Hannover zu Transformationen vormoderner Literatur und Theatralität, zu Demagogie und Literatur, zu Theater und Religion in globaler Perspektive, zur Theatralität politischer Stellvertreterschaft sowie zu Imagination und Spiel. Zuletzt erschienen: Demagogik und Figuration. Szenologien einer feministischen Revolution (in: Populismus kritisieren , mdwPress 2024, S. 225-250), Agora abbauen. Theater als metökische Konstellation (in: Forum Modernes Theater 34,1 (2023), S. 127-141), Politics of the Oberammergau Passion Play. Tradition as Trademark (hrsg. m. Jan Mohr, Routledge 2023).