Beschreibung
New York City, Sommer 1858: Marianne Neumann hat eine geheime Mission: Sie will ihre vermisste Schwester Sophie finden, die sie in Illinois vermutet. Deshalb lässt sie sich von einem Kinderhilfswerk anstellen, um Waisen und Straßenkinder in die ländlichen Gebiete von Illinois zu begleiten und ihnen dort ein neues Zuhause zu suchen. Auf der langen Zugfahrt in den Westen lernt sie ihren lebenslustigen Kollegen Andrew Brady kennen und schätzen. Gemeinsam kümmern sie sich hingebungsvoll um die Kinder. Doch ihre Reise wird von tragischen Ereignissen begleitet, die ihre Mission infrage stellen. Und unter der heiteren Oberfläche von Andrew tun sich mit einem Mal Abgründe auf, die Marianne mit in die Tiefe zu ziehen drohen.
Produktsicherheitsverordnung
Hersteller: Francke-Buch GmbH
Stefan Jäger
[email protected]Am Schwanhof 19
DE 35037 Marburg
Autorenportrait
Jody Hedlund lebt mit ihrem Mann, den sie als ihren größten Fan bezeichnet, in Michigan. Ihre 5 Kinder werden zu Hause unterrichtet. Die Zeit, die ihr neben dieser Tätigkeit noch bleibt, widmet sie dem Schreiben.
Leseprobe
Kapitel 1 New York City Juni 1858 Marianne Neumanns Finger zitterten so sehr, dass sie das erste Notizbuch fast nicht aufschlagen konnte. In der Schublade lagen noch sechs weitere Bücher. Wie sollte sie es schaffen, sie alle durchzublättern? Als sie Geräusche auf dem Flur hörte, erstarrte sie und warf einen Blick zur geschlossenen Bürotür. Sie hielt den Atem an und betete, dass sich die Schritte wieder entfernen würden. Nach nur zwei Wochen bei der Childrens Aid Society konnte sie es sich nicht leisten, dabei erwischt zu werden, wie sie im Schreibtisch des Leiters der Organisation herumschnüffelte. Einige Sekunden, die ihr wie eine Ewigkeit erschienen, regte sie sich nicht und lauschte mit angehaltenem Atem den Schritten, die sich auf dem Flur entfernten und langsam verhallten. Sie atmete tief aus und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Notizbuch, das mit einem einfachen, braunen Lederumschlag eingebunden war. Sie schlug es vorsichtig auf der ersten Seite auf. Als Datum oben auf der Seite stand April 1855. Mit zitternden Fingern blätterte sie in dem Buch und stellte fest, dass die Einträge unterschiedlich lang waren. Auch die Handschriften änderten sich häufig. Mehrere Seiten waren verknittert und die Tinte war an einigen Stellen, an denen Kaffee oder eine andere Flüssigkeit verschüttet worden war, unleserlich geworden. Der letzte Eintrag stammte von Ende 1855 - er lag also fast drei Jahre zurück. Sie klappte das Buch zu und räumte es wieder in die Schublade, in der sie es gefunden hatte. Ihre Hand strich über die unterschiedlichen Buchrücken. Sie musste die Aufzeichnungen vom vergangenen Herbst finden. Welches Buch enthielt die Informationen, die sie brauchte? Sie versuchte, das nächste Buch herauszuziehen, aber es war auf beiden Seiten eingeklemmt. Draußen war die Luft an diesem Juniabend inzwischen etwas kühler geworden, aber im ersten Stockwerk des Gebäudes der Childrens Aid Society herrschten nach wie vor eine große Hitze und eine hohe Luftfeuchtigkeit. Komm schon!, flüsterte sie. Dies war wahrscheinlich ihre einzige Chance, Informationen über ihre vermisste Schwester zu finden. Während ihre zitternden Finger ein weiteres Buch herausholten, bemühte sie sich, die letzte schwache Hoffnung nicht aufzugeben. Morgen würde sie zu ihrer ersten Fahrt nach Illinois aufbrechen und wäre wochenlang fort. Deswegen brauchte sie nun dringend einen Hinweis, irgendeinen Anhaltspunkt, wo sie während ihrer Fahrt suchen müsste. Sie schlug das Buch beim letzten Eintrag auf. März 1856. Das kam der fraglichen Zeit schon näher. Sie legte das Buch zurück und holte das nächste heraus. Stünden darin Aufzeichnungen aus dem Herbst 1857, in dem Sophie verschwunden war? Das Buch aus diesem Zeitraum musste doch irgendwo hier sein! Sie war nicht heimlich in das Büro des Leiters der Organisation geschlichen, um am Ende mit leeren Händen dazustehen. Mit ihrem unerlaubten Eindringen in das Büro tat sie nicht nur etwas, das Gott missfiel, sie setzte auch ihren Arbeitsplatz aufs Spiel. Selbst wenn ihr die Childrens Aid Society nicht kündigte, würde man ihr bestimmt nicht erlauben, die Kinder bei ihrer Fahrt in den Westen zu begleiten. Als wieder Schritte auf dem Flur näher kamen, erstarrte Marianne erneut. Diesmal verharrten die Schritte vor der Bürotür und ihr Puls überschlug sich fast. Sie drückte mit ganzer Kraft gegen die Schublade, um sie eilig zuzuschieben. Als der Türgriff quietschte, erfasste sie eine starke Panik und sie ließ sich schnell hinter dem Schreibtisch auf die Knie fallen. Sie hatte kaum genug Zeit, um den Kopf einzuziehen, als die Tür knarrend aufging. Sie hielt den Atem an und versuchte, sich unsichtbar zu machen. Zum Glück war der Schreibtisch sehr groß. Wenn sie ein wenig mehr Zeit gehabt hätte, hätte sie vielleicht den Stuhl aus dem Weg schieben und sich noch weiter unter den Schreibtisch quetschen können. Aber nun konnte sie nur beten, dass derjenige, der die Tür geöffnet hatte, lediglich einen kurzen Blick in den Raum werfen und nicht hereinkommen würde. Das Klicken, das verriet, dass die Tür wieder geschlossen wurde, jagte ihr ein Zittern durch den Körper. Als jemand anfing, das Zimmer zu durchqueren, drückte sie die Augen zu und duckte sich noch tiefer. Geh weg!, rief sie im Stillen. Aber die Schritte kamen immer näher. Komm nicht um den Schreibtisch herum! Bitte! Als die Schritte vor dem Schreibtisch stehen blieben, wagte sie nicht mehr zu atmen. Ihr Herz raste so schnell, dass es sich fast überschlug und wie wild gegen ihren Brustkorb hämmerte. Die Person, die sich jetzt im Raum befand, suchte etwas auf dem überfüllten Schreibtisch, blätterte in den Papieren und schob Bücher herum. Das gesamte Büro wirkte sehr chaotisch - die Regale quollen mit Büchern und Papieren über, mit Briefen gefüllte Kartons standen herum und auf dem Boden stapelten sich Zeitungen. Auch wenn es das größte Büro im ganzen Gebäude war, gab es hier kaum einen freien Platz und nur ein einziges Fenster, das halb offen stand. Plötzlich hörte das Rascheln auf der Schreibtischplatte auf. Marianne schlug die Augen auf. Ihr Blick fiel auf ein Paar Schuhe unter dem Schreibtisch. Schwarze Lederschuhe, die auf Hochglanz poliert waren. Oh nein! Sie drückte die Augen wieder zu, obwohl sie genau wusste, dass ihr das nicht helfen würde. Selbst wenn sie diese Bilder aussperrte, würde sie dadurch nicht auf wunderbare Weise aus dieser Notlage befreit werden, so verzweifelt sie sich das auch wünschte. Und der Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches würde dadurch auch nicht verschwinden. War Pastor Brace zurückgekommen? Er hatte das Gebäude vor über einer Stunde verlassen. Sie hatte gedacht, sie hätte lange genug gewartet, bevor sie in sein Büro geschlichen war. Hatte sie sich in Bezug auf seine Termine geirrt? Der Mann auf der anderen Seite des Schreibtisches räusperte sich. Sie wand sich innerlich. Stille breitete sich in dem Büro aus. Dadurch wirkten die plappernden Stimmen der Kinder im Erdgeschoss und die Abendgeräusche auf der nahe gelegenen Broadway Street - das Klappern von Pferdehufen, das Knarren von Kutschen und die Stimmen der Verkäufer und Händler, die ihre Geschäfte schlossen - noch lauter. Die Stille im Büro wurde beinahe unerträglich. Fast hätte sie geglaubt, dass der Mann verschwunden war, aber als sie wieder einen Blick wagte, standen seine Schuhe immer noch an derselben Stelle vor dem Schreibtisch. Also ?, fragte eine zögernde Stimme. Sie zuckte zusammen. Sie sollte eigentlich nicht erschrecken, aber sie konnte nicht anders. Sie hatte so sehr gehofft, unentdeckt zu bleiben. Aber offensichtlich war ihr Versteck nicht gut genug gewesen. Sie wünschte, der Boden würde sie verschlingen und sie könnte spurlos verschwinden. Aber da das nicht geschehen würde, suchte sie panisch nach einer Ausrede, nach irgendetwas, was erklären würde, warum sie hinter dem Schreibtisch auf dem Boden kniete. Kann ich Ihnen helfen? Die Stimme klang jünger als die von Pastor Brace und war ihr unbekannt. Vielleicht sollte sie sich auch weiterhin nicht rühren und so tun, als hätte sie ihn nicht gehört. Vielleicht würde er dann begreifen, dass sie nicht entdeckt werden wollte, und wieder verschwinden. Aber sosehr sie ihre missliche Lage auch gerne verdrängt hätte, wusste sie doch ganz genau, dass sie nun nach Kräften versuchen musste, ihren Ruf und ihren Arbeitsplatz zu retten. Dieser Mann war zwar offensichtlich nicht Charles Loring Brace, der Gründer der Childrens Aid Society, aber er könnte Pastor Brace sehr leicht erzählen, dass sie unerlaubt in seinem Büro gewesen war. Marianne versuchte, eine Unschuldsmiene aufzusetzen, und fuhr mit der Hand über den Boden. Ich suche nur meinen Stift. Im Stillen flüsterte sie ein Gebet um Vergebung, weil sie nun zu allem Überfluss auch noch log. Sie fühlte sich schon schrecklich genug, weil sie in das Büro eingedrungen war. Jetzt machte sie mit ihrer Lüge alles noch schlimmer. Haben Sie ihn gefunden?, fragte der Mann. ...