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Das Flüstern der Feigenbäume

Roman

Erschienen am 05.10.2021
27,00 €
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Bibliografische Daten
ISBN/EAN: 9783036958637
Sprache: Deutsch
Umfang: 512 S.
Format (T/L/B): 3.5 x 19.1 x 13 cm
Einband: gebundenes Buch

Beschreibung

Die jungen Liebenden Defne und Kostas dürfen sich nur heimlich treffen - sie ist Türkin, er Grieche, es herrscht Bürgerkrieg auf Zypern. Als sie durch die Unruhen getrennt werden, ahnen sie nicht, dass sie Jahre später wieder vereint werden. In einem neuen Leben, auf einer neuen Insel. Die BookerPrizenominierte Autorin Elif Shafak verwebt die Vergangenheit mit der Gegenwart und erzählt in diesem tiefschürfenden und zarten Roman über Zugehörigkeit und Identität, Schmerz und Hoffnung.

Autorenportrait

Elif Shafak, in Straßburg geboren, gehört zu den bedeutendsten Schriftstellerinnen der Gegenwart. Sie schreibt auf Englisch und Türkisch und veröffentlichte bisher 19 Bücher, darunter 12 Romane. Ihr neuestes Werk, Das Flüstern der Feigenbäume , stand auf der Shortlist der British Book Awards, des Costa Books Awards, des RSL Ondaatje Prize und des Women's Prize for Fiction. Ihr Werk wurde in 55 Sprachen übersetzt, in vielen Ländern der Welt ist sie eine Bestseller-Autorin.  Unerhörte Stimmen (2019) schaffte es auf die Shortlist für den Booker Prize und den RSL Ondaatje Prize und wurde Blackwell's Book of the Year. Die vierzig Geheimnisse der Liebe (2013) wurde von der BBC als eine der 100 Novels that Shaped Our World gewählt. Der Architekt des Sultans (2015) wurde in der ersten Ausgabe des Reading Rooms, dem Buchclub der Herzogin von Cornwall, vorgestellt. Shafak promovierte in Politikwissenschaften und lehrte an verschiedenen Universitäten in der Türkei, den USA und in Großbritannien, darunter als Ehrenmitglied am St. Anne's College der Universität Oxford. Zudem promovierte sie in Humane Letters am Bard College. Shafak ist Fellow und Vizepräsidentin der Royal Society of Literature und wurde von der BBC zu einer der 100 inspirierendsten und einflussreichsten Frauen gewählt. Sie war Mitglied des Weforum Global Agenda Council on Creative Economy und ein Gründungsmitglied des ECFR (European Council on Foreign Relations). Ihre vielbeachteten Aufritte, u.a. zweimal als Rednerin bei TEDGlobal, machten Shafak zum Sprachrohr für Gleichberechtigung und Frauen- und LGBTQ+-Rechte. Sie trägt weltweit zu wichtigen Publikationen bei und wurde mit dem Orden Chevalier de l'Ordre des Arts et des Lettres ausgezeichnet. 2017 wählte Politico sie zu einer der zwölf Personen, 'die Ihnen dringend nötige Aufmunterung bringen werden'. Sie ist Jurorin zahlreicher Literaturpreise, z.B. des PEN Nabokov-Preises, und war Vorsitzende des Wellcome Prize. Kürzlich erhielt sie den Halldór Laxness International Literature Prize für ihren Beitrag zur 'Erneuerung der Kunst des Geschichtenerzählens'. Elif Shafak lebt in London. www.elifshafak.com Michaela Grabinger hat für Kein & Aber mehrere Romane übersetzt, u. a. von Elif Shafak, Anne Tyler, Helen Simpson und Russell Franklin.

Leseprobe

Prolog Die Insel Es war einmal, verborgen in der Erinnerung, eine Insel weit draußen im Mittelmeer. Sie war so schön und blau, dass die vielen Reisenden, Pilger, Kreuzfahrer und Händler, die sich in sie verliebten, entweder nie wieder von ihr fortgehen wollten oder sie am liebsten mit Hanftauen in ihre fernen Heimatländer gezogen hätten. Das mögen Legenden sein. Doch Legenden gibt es, damit wir erfahren, was die Geschichte vergessen hat. Vor vielen Jahren floh ich in einem Koffer aus weichem schwarzem Leder an Bord eines Flugzeugs von dieser Insel und kehrte nie zurück. Seitdem bin ich in einem neuen Land, in England, heimisch geworden, bin dort gewachsen und gediehen, aber kein Tag vergeht, an dem ich mich nicht nach ihr sehne. Nach Hause. In meine Heimat. Sie ist bestimmt noch dort, wo ich sie zurückließ, hebt und senkt sich mit den Wellen, die sich schäumend an ihrer zerklüfteten Küste brechen. An der Kreuzung dreier Kontinente - Europa, Afrika, Asien - und der Levante, jener weiten, undurchdringlichen Region, die heute von allen Karten verschwunden ist. Eine Landkarte ist eine zweidimensionale Darstellung mit willkürlich gewählten Symbolen und eingezeichneten Linien, die darüber entscheiden, wer Feind und wer Freund ist, wer unsere Liebe, wer unseren Hass verdient und wer uns gleichgültig zu sein hat. Kartografie ist eine andere Bezeichnung für die Geschichten der Sieger. Für die Geschichten der Besiegten gibt es keine Kartografie. So sehe ich die Insel in der Erinnerung: goldene Strände, türkisblaues Wasser, der Himmel klar. Jedes Jahr kamen Meeresschildkröten an Land und legten ihre Eier in den pudrigen Sand. Spätnachmittags trug der Wind den Duft von Gardenien, Zyklamen, Lavendel und Geißblatt herbei. Blauregen rankte sich an weiß getünchten Wänden empor, als wollte er zu den Wolken hinauf; hoffnungsvoll, wie nur Träumende sind. Wenn die Nacht die Haut wie immer mit Küssen bedeckte, roch ihr Atem nach Jasmin. Der Mond war der Erde hier näher. Hell und sanft stand er über den Dächern und warf seinen klaren Schein in die engen Gassen und Kopfsteinpflasterstraßen. Doch auch Schatten bahnten sich Wege durchs Licht. Geflüsterter Argwohn und verschwörerisches Gemurmel wogten im Dunkel. Denn die Insel war in zwei Teile gespalten, einen nördlichen und einen südlichen. Zwei Sprachen, zwei Schriften, zwei Gedächtnisse. Und die Gebete der Inselbewohner galten nur selten demselben Gott. Die Hauptstadt war von einer Absperrung geteilt, die sich wie ein Schnitt ins Herz mitten durch sie hindurchzog. Entlang der Demarkationslinie - der Grenze - reihten sich verfallene, von Einschusslöchern durchsiebte Häuser und leere, nach Granateinschlägen vernarbte Innenhöfe aneinander; heruntergekommene, verbarrikadierte Läden, verschnörkelte Eisentore, die schief in herausgebrochenen Angeln hingen, unter dickem Staub rostende Luxuskarossen aus einer anderen Ära. Stacheldrahtrollen, aufgehäufte Sandsäcke, Fässer mit gehärtetem Zement, Panzergräben und Wachtürme dienten als Straßenbarrieren. Gassen endeten abrupt wie ein nicht zu Ende geführter Gedanke, ein ungeklärtes Gefühl. Soldaten mit Maschinengewehren standen Wache, wenn sie nicht gerade patrouillierten - einsame, gelangweilte junge Männer aus allen Teilen der Welt, die bis zu ihrer Stationierung in dieser fremden Umgebung kaum etwas über die Insel und ihre komplizierte Geschichte gehört hatten. An den Häuserwänden und Mauern hingen amtliche Schilder in kräftigen Farben, auf denen in Großbuchstaben zu lesen war: BETRETEN VERBOTEN! SPERRGEBIET! KEIN ZUGANG FÜR UNBEFUGTE! FILMEN UND FOTOGRAFIEREN STRENG UNTERSAGT! Ein Stück weiter die Straßensperre hinunter hatte ein Passant mit Kreide unerlaubterweise einen Zusatz auf ein Fass geschmiert: WILLKOMMEN IM NIEMANDSLAND Die von UNSoldaten bewachte Pufferzone, die Zypern vom einen zum anderen Ende durchtrennte, war etwa hundertachtzig Kilometer lang und an manchen Stellen bis zu sechseinhalb Kilometer breit, an anderen nur ein paar Meter. Wie der Geist eines uralten Flusses wand sie sich durch die unterschiedlichsten Szenerien verlassene Dörfer, schmale Küstenstriche, Sumpfgebiete, Brachland, Pinienwälder, fruchtbare Ebenen, Kupferminen und archäologische Ausgrabungsstätten. Doch hier, in der Hauptstadt und rings darum, war sie sichtbarer, greifbarer und deshalb noch bedrückender. Nikosia, die einzige geteilte Hauptstadt der Welt. So klang das fast positiv. Es hatte etwas Besonderes, ja Unvergleichliches, etwas Schwereloses, wie das eine Korn, das sich beim Drehen der Sanduhr nach oben bewegt. In Wahrheit aber war Nikosia kein Einzelfall. Es war nur ein weiterer Name auf der Liste gespaltener Orte und voneinander getrennter Menschen, ob sie nun der Vergangenheit angehörten oder noch gar nicht entstanden waren. Zu diesem Zeitpunkt aber stellte die Stadt etwas Außergewöhnliches dar. Die letzte geteilte Hauptstadt Europas. Meine Heimatstadt. Auch eine so klar gezogene und gut bewachte Grenze wie diese lässt sich von vielem überwinden. Zum Beispiel von dem trotz seiner sanften Namen erstaunlich kräftigen etesischen Wind meltémi oder meltem . Von Schmetterlingen, Grashüpfern, Eidechsen. Schnecken, so quälend langsam sie auch sind. Ab und zu entschwindet ein Geburtstagsballon in die Höhe, der dem Griff eines Kindes entkam und sich auf die andere Seite verirrt - Feindesland. Und von den Vögeln natürlich. Graureiher, Kappenammern, Wespenbussarde, Schafstelzen, Laubsänger, Maskenwürger und meine Lieblinge, die Pirole. Sie kommen von weit im Norden geflogen - meist in der Nacht, wenn sich die Dunkelheit an ihren Flügelspitzen sammelt und ihnen rote Kreise um die Augen zeichnet - und unterbrechen die lange Reise nach Afrika auf halbem Weg. Für sie ist die Insel ein Rastplatz, eine Lücke in der Erzählung, ein Dazwischen. Auf einer dicht mit Gestrüpp, Brennnesseln und Heidekraut bewachsenen Anhöhe in Nikosia finden sich auf der Suche nach Futter bunt gefiederte Vögel ein. Mitten in der wild wachsenden Vegetation steht ein alter Brunnen mit einem Flaschenzug, der bei der kleinsten Berührung ächzt, und einem Blecheimer an einem zerfransten, mit Algen bewachsenen Seil. Tief unten in diesem Brunnen ist es immer pechschwarz und eisig kalt, sogar wenn die glühende Mittagssonne direkt daraufbrennt. Er ist ein hungriges Maul, das nach der nächsten Mahlzeit giert; er schluckt jeden Lichtstrahl, jeden Hitzehauch, reißt noch das kleinste Stäubchen in seinen langen steinernen Schlund. Sollten Sie je in diese Gegend kommen und sich, aus Neugier oder einem inneren Drang heraus, über den Rand beugen, hinunterblicken und warten, bis Ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt sind, könnten Sie am Grund etwas schimmern sehen, das an die aufblitzenden Schuppen eines Fischs erinnert. Doch lassen Sie sich nicht täuschen. Es gibt dort unten keine Fische. Auch keine Schlangen und Skorpione. Keine an seidigen Fäden hängenden Spinnen. Der Glanz kommt nicht von einem lebenden Wesen, er kommt von einer alten Taschenuhr - Perlmutt, umschlossen von achtzehnkarätigem Gold, mit einer Gravur, die aus zwei Zeilen eines Gedichts besteht: Dort anzukommen ist dir vorbestimmt. Doch eile nicht auf deiner Reise. Und auf der Rückseite stehen zwei Initialen, genauer gesagt zweimal der gleiche Buchstabe: Y&Y Der Brunnen ist zehn Meter tief, eineinhalb Meter weit. Eine sanft gerundete Mauer aus Quadern, die sich in immer gleichem horizontalem Verlauf zum stummen, modrigen Wasser hinabziehen. Dort unten liegen zwei Männer, die Wirte einer beliebten Taverne. Beide sind schlank und mittelgroß, mit abstehenden Ohren, über die sie immer gewitzelt haben. Beide sind auf der Insel geboren und aufgewachsen. Beide waren Mitte vierzig, als man sie entführte, zusammenschlug und ermordete. Man hat sie aneinandergekettet, mit einem Drei-Liter-Olivenölkanister voller Beton beschwert, um sicherzugehen, dass sie nie wieder auftauchen würden, und in den Schacht gestoßen. Die Taschenuhr, d...

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