Beschreibung
Mit der Fortdauer der Wirtschafts- und Finanzkrise sind die nationalen Arbeits-und Sozialsysteme der EU-Mitgliedstaaten einem verschärften Reformdruck ausgesetzt. In dem Band wird untersucht, wie sich dieser Druck in einzelnen Wohlfahrtsstaaten darstellt und wie Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände und Regierungen auf ihn reagiert haben. Es wird sichtbar, dass sich die verfolgten Strategien beträchtlich unterscheiden: Sie bewegen sich im Spannungsfeld von Konfliktorientierung und Krisenkorporatismus und sind stark durch die Organisationsmuster der nationalen Kapitalismusmodelle geprägt.
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Autorenportrait
Hans-Jürgen Bieling und Daniel Buhr sind Professoren am Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen.
Leseprobe
Europäische Welten in der Krise: Nationale arbeits- und sozialpolitische Transformationspfade HansJürgen Bieling und Daniel Buhr 1 Gegenstand und Problemaufriss Noch vor einiger Zeit war es geläufig, vom europäischen Gesellschafts-modell zu sprechen. Dies erfolgte zumeist mit Verweis auf eine Reihe spezifischer historischer Strukturmerkmale (Kaelble 1987): so etwa auf den besonderen Stellenwert der Kernfamilie und das relativ hohe Heiratsalter; auf eine komparativ industrieintensive Beschäftigungsstruktur; auf eine familiengestützte und durch staatliche Regulierung beeinflusste Wirtschaftsmentalität in Großunternehmen; auf eine schwache soziale Mobilität aufgrund stark verregelter Bildungs- und Ausbildungswege; auf eine durch fiskal- und wohlfahrtsstaatliche Instrumente gemilderte soziale Ungleichheit; auf Städte mit einer entwickelten Infrastruktur und funktionsfähigen Räumen des öffentlichen Lebens; auf einen umfassenden Wohlfahrtsstaat sowie relativ starke, in überbetrieblich organisierten Arbeitsbeziehungen und (neo)korpora-tistischen Arrangements aktive Gewerkschaften. Vor allem die letztge-nannten Merkmale bilden zugleich den Kern eines "Europäischen Sozial-modells", auf das sich politische Akteure normativ und wissenschaftliche Beobachter analytisch bezogen haben (Aust u.a. 2002). Sowohl die normative als auch die analytische Bezugnahme waren nicht unumstritten; zumal der - durch den EG-Binnenmarkt, die Wirtschafts- und Währungsunion, die Finanzmarktintegration und EU-Osterweiterung - forcierte Wettbewerb dieses Modell seit den 1990er Jahren vermehrt unter Druck gesetzt hatte. Ungeachtet vieler arbeits- und sozialpolitischer Reformen erwies sich das Europäische Sozialmodell dabei jedoch als erstaunlich bestandsfähig (Hay u.a. 1999). Dies gilt vielleicht weniger für das Niveau und den Umfang individueller sozialer Rechte und Leistungsansprüche (Cafruny/Ryner 2007: 43ff), so aber doch für die Grundstrukturen der arbeitspolitischen Kooperation und wohlfahrtsstaatlichen Organisation (Eichhorst/Hemerijck 2010). Diese Bestandsfähigkeit scheint in vielen Ländern nun unter Druck zu ge-raten. Im Kontext der europäischen Krisenprozesse - zunächst der tiefen Wirtschafts- und Finanzkrise, dann der sog. Staatsschulden- und Euro-krise - sind die Arbeitsbeziehungen, der öffentliche Sektor und die wohl-fahrtsstaatlichen Sicherungssysteme vielfach einem starken Transformati-onsdruck ausgesetzt. Dies ist wenig verwunderlich, werden in Krisenzeiten die bestehenden wirtschaftlichen Strukturen und institutionellen Arrange-ments doch verstärkt in Frage gestellt. Im Verlauf der europäischen Kri-senprozesse lässt sich beobachten, dass der Veränderungsdruck zuneh-mend und übergreifend mit der Vorherrschaft marktliberal-austeritätspo-litischer Strategien korrespondiert. Er entfaltet sich in den Mitgliedstaaten allerdings ungleichzeitig und unterschiedlich. Die Mitgliedstaaten der EU werden von den europäischen Krisenprozessen zwar allesamt, aber alle sehr spezifisch erfasst, was wiederum auf eine besondere Krisenan-fälligkeit oder -resistenz der nationalen Kapitalismusmodelle und ihrer Ar-beits- und Sozialsysteme verweist. Der vorliegende Band möchte die Ge-meinsamkeiten und Unterschiede in vergleichender Perspektive genauer herausarbeiten. Entsprechend geht er folgenden Leitfragen nach: Ob und inwiefern sind die einzelnen Länder von der Krise spezifisch getroffen worden? Mit welchen Strategien und politischen Reformen haben sie auf die Krise reagiert? In welchem Maße haben die Reaktionen zu einer Transformation der arbeits- und sozialpolitischen Institutionen geführt? Und durch welche übergreifenden oder länderspezifischen Faktoren sind die jeweiligen Reaktionen zu erklären? 2 Dimensionen einer integralen Theorie- und Analyseperspektive Um diese Leitfragen zu beantworten, nehmen die Länderstudien eine ana-lytische Perspektive ein, die vor allem durch zwei Merkmale gekennzeich-net ist: Das eine Merkmal besteht in einer hinreichenden Sensibilisierung für die politökonomischen Strukturen und Krisendynamiken der nationa-len Kapitalismusmodelle, einschließlich ihrer transnationalen Verflechtung und europäischen Einbindung. Über die Entwicklung eines politökono-misch fundierten komparativen Blicks auf die nationalen Wohlfahrtsstaaten und Arbeitsbeziehungen hinaus weisen die Länderstudien aber noch ein zweites Merkmal auf. Sie unterstellen eine Art "Wahlverwandtschaft" zwischen den betrachteten Analysesphären. Diese Unterstellung impliziert, dass sich die genannten Bereiche einerseits durch gewisse Eigenheiten auszeichnen und eigengesetzlich entwickeln, andererseits aber auch wechselseitig aufeinander einwirken und artikulieren sowie auf diese Weise spezifische strukturelle und ins-titutionelle Komplementaritäten ausbilden (Ebbinghaus/Kittel 2006). 2.1 Die komparative Kapitalismus- und Wohlfahrtsstaatsforschung In der vergleichenden Kapitalismus- und Wohlfahrtsstaatsforschung gibt es zahlreiche Ansätze, die den genannten Merkmalen und analytischen Anforderungen Rechnung tragen. Was die Wohlfahrtsstaatsforschung betrifft, so ist die von Esping-Andersen (1990) entwickelte Regime-Typologie, gemäß der zwischen einem liberalen, konservativen und sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat mit jeweils besonderen institutionellen und redistributiven Eigenschaften differenziert werden kann, fest etabliert. Nicht nur die Ergänzung um weitere Regime-Typen - etwa den post-autoritären und den post-kommunistischen Wohlfahrtsstaat (Lessenich 1994; Arts/Gelissen 2002; Castles/Obinger 2008) - zeugen von der Vitalität dieser Konzeption. Auch die unterstellte Korrespondenz von arbeitsmarkt- und sozialpolitischen Arrangements deutet darauf hin, dass die Konzeption für politökonomisch inspirierte Forschungsdesigns vielfältige Anschlüsse liefert. Diese ergeben sich zum einen daraus, dass die Genese der unterschiedlichen Regime-Typen durch die politisch-institutionelle Verfasstheit der jeweiligen Gesellschaften, d.h. die spezifischen politischen Aushandlungs- und Entscheidungsprozesse, die bestehenden Kompetenzen, verfügbaren (Macht-)Ressourcen und Bünd-niskonstellationen (Esping-Andersen 1985; Korpi 2006) erklärt wird. Zum anderen öffnet sich die Typologie durch die Bezugnahme auf spezifische nationale Arbeitsmarktregime für die jüngeren Debatten der vergleichen-den Kapitalismusforschung (Hall/Soskice 2001; Amable 2003; Boyer 2005; Hancké u.a. 2007; Deeg/Jackson 2012; Schröder 2013). Schließlich werden die Arbeitsmarktregime selbst maßgeblich durch die politökonomischen Grundstrukturen der nationalen Kapitalismusmodelle, d.h. die prägenden Sektoren oder Branchen, den Stellenwert und Charakter des Kapitalmarktes und des Kreditsystems, die Export- oder Binnenmarktorientierung oder das Wissenschafts-, Bildungs- und Aus-bildungssystem, strukturiert und in ihrer Funktionsweise beeinflusst. Die vergleichende Kapitalismusforschung wird dabei durch zwei theore-tische Konzeptionen geprägt, die ungeachtet mancher Schwächen für die Länderstudien dieses Bandes instruktiv sind. Dies ist zum einen der "Varieties of Capitalism"-Ansatz (Hall/Soskice 2001) und hieran anschließende Konzeptionen einer institutionalistischen Politischen Ökonomie (zum Überblick May/Nölke 2013), die insbesondere die institutionellen Komplementaritäten und Pfadabhängigkeiten kapitalistischer Entwicklungsmodelle hervorheben. Diese beiden Aspekte lassen sich in den nachfolgenden Länderstudien zweifelsohne erkennen. Zugleich fällt aber auf, dass die Krisen, Brüche und Momente des institutionellen Wandels in der VoC-Diskussion oftmals unterschätzt und nicht hinreichend erklärt werden (Hall/Thelen 2009). Entsprechend wird zum anderen häufig auf regulationstheoretische Überlegungen zurückgegriffen, die mit Hilfe der beiden Konzeptionen des Akku-mulationsregimes und der Regulationsweise (Lipietz 1985) sehr viel stär-ker den krisenhaften Verlauf kapitalistischer Entwicklung hervorheben. Im Umkehrschluss fällt es d...