Beschreibung
Rusiv, ein Dorf in der historischen Region Ostgalizien, gehört heute zur Ukraine. Im 20. Jahrhundert wechselte es mehrmals die staatliche Zugehörigkeit. Über die Jahrzehnte wanderten viele Bewohner nach Kanada aus. Dichte Netzwerke zwischen den Ausgewanderten und den zu Hause Gebliebenen bestimmten das Leben des Dorfes - und waren sogar stark genug, den Eisernen Vorhang zu durchdringen. In der Gegenwart migrieren viele Bewohner nach Südeuropa, sodass bis heute von einem global vernetzten Dorf zu sprechen ist. Der Autor richtet den Blick auf eine Menschengruppe, die meist außen vor bleibt, die Dorfbewohner, und eröffnet so eine neue Sichtweise auf die Geschichte Osteuropas.
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Autorenportrait
Matthias Kaltenbrunner, Dr. phil., ist Assistent am Institut für Osteuropäische Geschichte an der Universität Wien.
Leseprobe
Vorwort Das vorliegende Buch beruht auf meiner Dissertation, die im Herbst 2015 am Doktoratskolleg (DK) Galizien der Universität Wien angenommen wurde. Als ich im Früjahr 2013 mit meinen Recherchen begann, konnte ich nicht ahnen, wie sehr die Ukraine, für die sich bis dahin außer einigen wenigen Spezialisten kaum jemand interessiert hatte, bald im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit stehen - und auch wieder aus den Nachrichten verschwinden - würde. Der Beginn der Majdan-Proteste Ende November 2013 überraschte mich während eines Forschungsaufenthaltes in Kiew. Jeden Abend wurde ich Zeuge der Demonstrationen auf dem "Majdan Nezaleznosti", auf Deutsch "Platz der Unabhängigkeit", der voller junger Menschen war, spazierte durch die besetzten Gebäude und genoss die Musik, die verschiedenste Gruppen aufführten. Die Stimmung war gelöst und optimistisch, wie auf einem Rock-Festival. Was einige Monate später geschah - das Massaker an Protestierenden auf dem Majdan, die Annexion der Krim durch Russland und der Krieg in der Ostukraine gegen die von Russland unterstützten Separatisten -, war noch kurz zuvor unvorstellbar gewesen. Obwohl die Dörfer im westukrainischen Bezirk Snjatyn, die ich als Fallbeispiele für diese Migrationsstudie ausgewählt hatte, hunderte Kilometer vom Kriegsschauplatz entfernt waren, waren deren Bewohner unmittelbar von diesen Ereignissen betroffen. Bei einer meiner Recherchereisen im Frühjahr 2015 sammelten die Dorfbewohner gerade Geld für einen jungen Mann, genauso alt wie ich, der zur Armee eingezogen worden war und bald an die Front geschickt werden sollte. Ich wusste, dass die ukrainische Armee ihren Soldaten nicht die notwendige Ausrüstung wie schusssichere Westen zur Verfügung stellen konnte, doch in diesem Fall ging es um etwas anderes: Dem Rekruten, der aus einer der ärmsten Familien im Dorf stammte, fehlten Unterwäsche und Socken. Dies war kein Zufall - die sozial Schwächsten hatten weder die Energie, sich vor der Rekrutierung zu drücken, noch das Geld, um jemanden zu bestechen. Ein anderer Dorfbewohner, ein Jahr jünger als ich und zweifacher Vater, erlitt bei Kämpfen im Donbas lebensgefährliche Kopfverletzungen. Er hatte das Glück, in Hamburg behandelt zu werden. Nun ist der ehemalige Bauarbeiter wieder zu Hause und mit nicht einmal dreißig ein Pflegefall. Die Mittel für die teuren Spezialmedikamente, die er benötigt, muss seine Frau selbst aufbringen. Die existentielle Not und das menschliche Leid, mit denen ich konfrontiert wurde, erschütterten mich tief. Ich tat, was ich konnte, um wenigstens einigen wenigen etwas unter die Arme zu greifen, doch mir war bewusst, dass es ein Tropfen auf den heißen Stein war. Die Menschen, mit denen ich während meiner Recherchen zu tun hatte, waren nun auf Jahre dazu verdammt, in einem politisch instabilen Staat in desolaten wirtschaftlichen Verhältnissen zu leben. Die soziale Misere, die schon bei meinen ersten Besuchen im Sommer 2013 offensichtlich gewesen war, hatte sich durch den Krieg stark verschlimmert. Viele der historischen Migrationsprozesse, die ich in diesem Buch analysiere, traten für meine Gesprächspartner in den Dörfern vor dieser dramatischen Situation in der Gegenwart in den Hintergrund. Umso höher ist zu schätzen, dass die meisten Dorfbewohner dennoch bereit waren, mit einem wildfremden Ausländer ihre Familien- und Lebensgeschichte zu teilen und mir Einblick in ihre Privatarchive zu gewähren. In diesem Zusammenhang sind besonders Vasyl' und Motrja Stefanyk in Lemberg zu nennen, die mir den gesamten Briefwechsel ihrer Familie zur Verfügung stellten und mich bei meinen Besuchen herzlich aufnahmen. Zu ganz besonderem Dank bin ich Marija Kosmenko, der Direktorin des Stefanyk-Museums, verpflichtet, die mich bei meinen vier Aufenthalten in Rusiv organisatorisch stets kräftig unterstützte und obendrein köstlich bewirtete. Tagelang war sie mit großer Geduld bemüht, meine nicht enden wollenden Fragen zu beantworten. Großer Dank gebührt auch Myroslav Onys?uk aus Prutivka, der nach meinem plötzlichen Auftauchen im Mai 2015 alles liegen und stehen ließ, um mich einige Tage lang bei meinen Recherchen zu begleiten und mir Interviewpartner zu vermitteln. Zudem danke ich zahlreichen weiteren Menschen, die mich in den unterschiedlichen Phasen meiner Recherchen in der Ukraine besonders unterstützten: Ihor Andrijivs'kyj (Putjatynci), Myroslav Bratus' (Lemberg/Obel'ncyja), Vasyl' Charyton (Snjatyn/Ustja), Jevhen Hrycjak und seine Familie (Ustja), Mykola Hujvanjuk (Czernowitz), Volodymyr Karyj (Snjatyn), Ruslana Kirejeva (Snjatyn), Mykola Kundryk (Myhaji), Mykola Mychajlucja (Odessa), Tetjana Pastusenko (Kiew), Julian Radevy? (Snjatyn), Oleksij Stefanyk (Rusiv), Oksana Tan?ynec' (P'jadyky), Tetjana Vovk (Snjatyn/Zavallja) und Irena Vynohradnyk (Ivano-Frankivs'k). In den USA und in Kanada danke ich insbesondere Jars Balan (Edmonton), Stella Hryniuk (Winnipeg), Bohdan Jejna (Rochester, NY), Andrij Makuch (Toronto), Myron Momryk (Ottawa), Serhii Plokhy (Har-vard), Larissa Stavroff (Toronto) und Benoit Thériault (Ottawa). Mein aufrichtiger Dank gilt auch allen Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen (es waren hauptsächlich Frauen) der verschiedenen Archive und Bibliotheken, die ich im Laufe meiner Recherchen benutzte. Gerade in der Ukraine konnte ich nicht selten unbürokratisch mehr Akten bestellen, als eigentlich vorgesehen war, und auch meinen Fotoapparat benutzen, sodass ich durchwegs unter sehr guten Bedingungen arbeiten konnte. Am Ende möchte ich meinem Betreuer Philipp Ther, Professor am Institut für Osteuropäische Geschichte der Universität Wien, der mich weit über die Dissertation hinaus mit seinen Ideen und kritischen Hinweisen begleitete und mir jederzeit mit Rat und Tat zur Seite stand, meinen ganz besonderen Dank aussprechen. Dasselbe gilt für meine Zweitbetreuerin Kerstin Susanne Jobst, der ich ebenfalls zahlreiche wertvolle Hinweise verdanke. Großen Dank schulde ich meinem Mentor Frank Sysyn vom "Canadian Institute of Ukrainian Studies" (CIUS). Er unterstützte mein Forschungsprojekt nicht nur während meines Aufenthalts in Toronto, sondern reiste extra zu einem Mentoren- und Mentorinnentreffen des DK Galizien nach Wien. Wesentliche kritische Anmerkungen zu meiner Arbeit verdanke ich Per Anders Rudling (Lund/Singapur), dem ich hier ebenfalls herzlich danken möchte. Zu besonderem Dank bin ich auch Alois Woldan und den übrigen Professorinnen und Professoren des DK Galizien verpflichtet, ebenso meinen Kolleginnen und Kollegen. Last but not least danke ich meiner Freundin Andreea Petruescu und meiner Familie, insbesondere meinem Vater Josef Kaltenbrunner und meinem Onkel Werner Nöstlinger, für das Korrekturlesen und die technische Bearbeitung des Manuskripts. Schließlich danke ich Isabell Trommer und dem Campus-Verlag für die gute Betreuung. Wien, im Mai 2017 1. Einleitung 1.1. Problemstellung: Ostgalizische Dörfer im 20. Jahrhundert "Dieses Buch beschreibt die Familie des armen Bauern Kejvan Nykolaj, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Pokutien lebte (Bezirk Snjatyn, Dorf Karliv, später in Prutivka umbenannt). Der Bauer Kejvan hatte fünf Kinder. Der älteste Sohn war bei den Si?-Schützen, kämpfte vor Kiew in der Armee Bolbo?ans, später, nachdem er durch Polen, Österreich und Kanada gewandert war, vor Madrid im Mackenzie-Papineau-Bataillon, er wurde verwundet und kehrte nach Kanada zurück. Der zweite Sohn wurde Bauer im Dorf. Die Tochter [Olena] fuhr nach Kanada, ihr Sohn Nick (Nykolaj) wurde bereits dort geboren und wurde zum Innenminister von Ontario. Die zweite Tochter Marija stellte sich auf die Seite der Bolschewiki und wurde 1945 von den banderivci ermordet. Die dritte Tochter Anna wurde wegen ihres Ehemannes, der bei den banderivci war, nach Taskent [recte Tajset, Gebiet Irkutsk] deportiert. Aus meiner Familie waren meine zwei Cousins Froljak bei der SS-Division Galizien, von dort desertierten sie zur Aufstandsarmee UPA und wurden von den Organen des NKVD erschossen." ...